Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Kleiner Findling

  Als wir gegen kurz vor 8 Uhr unsere Rucksäcke packen, ist oben bei Madame Bic noch alles ruhig. Für 8 Uhr war Frühstück angedacht und noch immer ist nichts zu hören. Um 8.10 Uhr immer noch andächtige Ruhe. Leise gehe ich die Treppe zum Obergeschoss hoch und vernehme schnell ein derbes Schnarchgeräusch. Madame Bic etwa? Oder doch eher ihr älteres Schoßhündchen, das schon gestern beim Abendessen ratzte wie ein Weltmeister? Irritiert steige ich die Treppen wieder herunter. Was sollen wir machen? Gehen und der alten Dame den Schlaf gönnen? Plötzlich geht oben das Telefon, aber Madame geht nicht dran. Müssen wir uns Sorgen machen? Endlich tut sich was. Wir hören Schritte, Jalousien werden aufgezogen. Na prima, Madame ist aktiv. Ich rufe ein fröhliches "Bonjour!" hoch und zurück kommt ein aufgeregtes "Olalla! Olallaaa !!!". Madame ist ihr Verschlafen peinlich, aber eine Viertelstunde später steht das Frühstück auf dem Tisch.



Etwas später als in den letzten Tagen gehen wir aus dem Haus. Madame Bic und ihr glupschäugiges Schoßhündchen verabschieden uns draußen vor dem Haus. Merci, Madame!



Inzwischen hat es leicht zu schneien begonnen, wieder mal. Wir dachten doch schon, wir wären auf der Frühlingsschiene! Aber besser als Regen. Negativ daran ist für uns eigentlich nur, dass am Ziel unsere Klamotten im Rucksack wieder eisig kalt sind und man so gar keine Lust hat, sich in die "Freizeitkleidung" zu werfen. Das Gute daran ist aber, dass unsere Lebensmittel bei diesen Temperaturen besser haltbar bleiben. Allerdings riecht schon jetzt mein geliebter Camembert recht streng, so dass mittlerweile mein ganzer Rucksackinhalt entsprechend duftet. Vielleicht wird man mich ja mal später auf dem Jakobsweg den "Stinkstiefel" nennen.



Nach einem Kilometer verlassen wir die Hauptverkehrsstraße, überqueren die Maas über eine alte Steinbrücke und schwenken dann wieder auf die alte Römerstraße ein. Es läuft sich leicht und wir kommen gut voran. Kühe grüßen uns aus ihren Ställen und diverse Hunde achten sehr darauf, dass wir ihr Revier nicht betreten.



In Vaudrecourt verlassen wir den Jakobsweg. Unser Quartier ist heute ein Chalet auf dem Campingplatz von Bourg-Sainte-Marie, abseits vom Weg. Wir steigen steil hinauf in den Wald Bois de Bourmont und stehen dann ziemlich schnell an einer Stelle, wo der weitere Wegverlauf nicht klar ist. Anni greift zu ihrem Handy-Navi und bestimmt damit zielgenau unsere einzuschlagende Richtung. Wir sind immer wieder begeistert, wie der Anzeiger des eigenen Standorts sich unserem nächsten Zwischenziel immer mehr annähert.



Plötzlich trauen wir unseren Augen nicht. Zwanzig Meter vor uns steht mitten auf dem Waldweg ein kleiner, eifrig mit dem Schwanz wedelnder Hund. Als wir näher kommen, erkennen wir, dass es sogar noch ein Welpe ist. Anni vermutet, dass er nicht älter als drei Monate sein dürfte. Er beginnt zu kläffen, zu fiepen, zu jaulen. Er springt an Anni hoch, fordert Streicheleinheiten, bekommt sich überhaupt nicht mehr ein. Was macht dieser kleine Wurm alleine im Wald? Jaulend und um Anni herumspringend läuft er uns nach. Sira weiß nicht so recht, wie sie mit diesem Artgenossen umgehen soll. Was will der von ihrem Frauchen?



Als wir endlich aus dem Wald heraustreten, sehen wir erstmal, wie weit der nächste Ort noch entfernt ist. Hoch oben auf dem gegenüberliegenden Berg liegt Bourmont. Sollte der Kleine von dort ausgebüchst sein? Jedenfalls schreit er inzwischen förmlich nach Hilfe. Anni nimmt ihn auf den Arm und trägt ihn eine Weile. Er schmiegt sich an sie, zittert, fiept zum Herzerbarmen.



Endlich sind wir oben in Bourmont. Der Ort wirkt wie ausgestorben. Das einzige Lebewesen, das wir sehen, ist eine fette Katze. Das ist zuviel für Siras Nerven! Mit einem Satz hechtet sie auf diese zu. Das ist in diesem Moment wiederum zuviel für Annis Standfestigkeit und sie setzt sich mit einem Aufschrei auf die Straße. Sira zerrt weiter an der Leine Richtung Katze, der kleine Findling springt an der schimpfenden Anni hoch und leckt ihr das Gesicht ab. Eine Situation zum Schießen.



Als Anni sich wieder aufgerappelt hat, öffnet sich eine Tür und ein älterer Mann tritt heraus. Mit Händen und Füßen versuchen wir, ihm die Situation mit unserem kleinen Schützling zu erklären. Aus dem anschließenden Redeschwall meinen Anni und ich herauszuhören, dass eine Straße weiter im Fenster der Boulangerie ein Vermisstenfoto von dem Kleinen hängt und er sich um ihn kümmern wird. In diesem Moment kommt auch seine Frau die Flurtreppe herunter und nimmt den Kleinen, der sich inzwischen nahe bei der Haustür in den Flur gelegt hat, liebevoll auf den Arm. Wir sind erleichtert und ziehen frohgestimmt weiter.



Anni ist nahezu euphorisch. Wenn von dem kleinen Streuner sogar schon ein Foto aushängt, wie lange treibt er sich dann schon im Wald rum, bei dieser Kälte? Haben wir ihn nochmal gerade rechtzeitig gefunden und nach Bourmont zurückgebracht? War vielleicht Jakobus hier wieder am Werk?



Eine Stunde später sind wir auf dem Campingplatz bei Bourg-Sainte-Marie. Die freundliche Betreiberin überlässt uns ein größeres Chalet als telefonisch vereinbart zum gleichen Preis und bietet uns dazu noch an, uns morgen für eine zweite Nacht von Montigny-le-Roi abzuholen, falls wir dort keine passende preiswerte Unterkunft bekommen. Tatsächlich gelingt uns das nicht und wir nehmen das Angebot dankend an. Unser Chalet ist gemütlich und wir werden uns auch noch einen zweiten Abend hier wohlfühlen.



Aber wie geht es jetzt unserem Kleinen?

Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Sebastian (Donnerstag, 14 März 2013 18:38)

    Tolle Geschichte über den Findling. Sira sieht äußerst skeptisch aus auf den Bildern :-)

  • #2

    Ralf (Donnerstag, 14 März 2013 19:46)

    oh...oh...ich seh schwarz für Euch. In Spanien wird es viel schlimmer. Dort werdet Ihr auf Hunde, Pferde und Katzen treffen...die wahrscheinlich dazu führen werden, dass Ihr mit einem Kleintierzoo nach Hause gehen werdet. Ich habe während meiner Pilgerreise durch Spanien einige/viele Tiere unterwegs gesehen...und jeder Fall hat mich fast verzweifeln lassen. Spanien hat nicht unbedingt ein Herz für Tiere...aber das kennen wir ja schon aus dem Buch von Hape Kerkeling.
    Ich lese von Euch...jeden Tag. Buen Camino

  • #3

    Dani (Samstag, 30 März 2013 19:44)

    Ich liebe Bild 11. "La Möse"... Hihihi!!!!

  • #4

    u=11572 (Montag, 22 April 2013 16:31)

    This article was in fact exactly what I was searching for!