Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Urlaub für Annikas Gemüt

Sira versteht die Welt nicht mehr. Als wir mit ihr über die Terrasse unserer Gastgeber zum Frühstück gehen wollen, steht sie dem Hauskaninchen gegenüber. Wahrscheinlich denkt sie sich dreierlei: Entweder ist das jetzt hier eine Fata Morgana oder Jakobus hat sich verkleidet und will mir jetzt was sagen oder ich bin jetzt total bekloppt geworden. Sie fixiert dieses braune Etwas, das doch tatsächlich aussieht wie ein Kaninchen, und erstarrt zur Salzsäule. Dann explodiert es in ihrem Kopf und sie realisiert, dass das WIRKLICH ein Kaninchen ist. Bevor sie IHR Frühstück zu sich nimmt, schafft es Anni mit einer gehörigen Kraftanstrengung, sie ins Frühstückszimmer zu bugsieren. Das Gelächter bei den anderen Pilgern und bei den Gastgebern ist groß, es hätte aber auch schiefgehen können.

Beim Anziehen meiner Wanderschuhe werfe ich einen kurzen Blick auf die Sohle. Fast 1300 Kilometer haben sie jetzt auf dem Buckel und sie sind ganz schön abgerieben. Nur eins steht fest: Auf meinen Autoreifen hatte ich schon weniger Profil. Und wo wir gerade dabei sind: Ich hatte auch schon mal einiges mehr auf den Rippen, viel mehr. Inzwischen kann ich meinen Gürtel um drei Löcher enger schnallen.

Mittlerweile scheint gesichert, der Frühling setzt sich durch. Bereits heute wird es ein herrlicher Tag, in den nächsten Tagen knacken wir wahrscheinlich die 20°-Grenze. Vom gestrigen Regen ist der Himmel klargewaschen und die Luft ist frisch und rein. Die Landschaft der Margeride, die wir heute durchqueren, ist von der vulkanischen Tätigkeit des Velay verschont geblieben. Abgerundete Granitfelsen ragen wie gigantische Murmeln aus dem Boden und die Oberfläche ist überzogen von einer Heide- und Weidelandschaft. Im gemäßigten Auf und Ab führt unser Weg durch Senken und Ebenen sowie über bewaldete Kuppen. Seit Le Puy bereits stellen wir fest, dass die Infrastruktur des Jakobswegs sich geändert hat. Wer sich jetzt noch auf ihm verläuft, ist wirklich selbst schuld. Die Strecke ist hervorragend ausgezeichnet, häufig finden sich Bänke als Rastplätze und die Anbieter diverser Übernachtungsmöglichkeiten bieten ihre Dienste entlang der Strecke frühzeitig auf Tafeln an.

Auf einer Weide bei einem Bauernhof tummeln sich einige wenige Kühe, jede Menge Kälber - und ein Riesenkabänes von Bulle. Trautes Familienglück! In diese Idylle platzt der Bauer, der die Weide überquert, um ein weiteres Gatter zu öffnen. Was nett vom Bauern gemeint ist, will er doch nur die Weidefläche vergrößern, wird vom Bullen wohl falsch verstanden. Plötzlich brüllt und schnaubt er los, scharrt wütend mit seinen Hufen und setzt sich mit seinem massigen Körper in Richtung Bauer in Bewegung. Der kennt wohl seinen Pappenheimer und hat sich schnell genug in Sicherheit gebracht. Bauer sein hat eben auch seine Risiken.

Das Verhältnis zwischen Anni und Sira ist heute wesentlich entspannter als in den letzten beiden Tagen. Der Grund ist ganz einfach: Einen großen Teil des Tages gehen wir nicht auf dem eigentlichen Jakobsweg, sondern entlang der abkürzenden, kaum befahrenen Landstraße. Und hier fehlt der Geruch, die Fährte der anderen Pilger. Während sie gestern und vorgestern wie jeck unseren Brüdern und Schwestern im Geiste nachhechelte und Anni damit zur Verzweiflung brachte, fehlt ihr heute dieser Drang völlig. Anni genießt diese neugewonnene Harmonie zwischen Frauchen und Hund und ich merke, wie ihr das guttut. Wir stapfen munter voran, erfreuen uns des schönen Tages und unterhalten uns angeregt. All das ist in den letzten Tagen aufgrund Siras schwierigen Verhaltens kaum noch möglich gewesen. Da sieht man doch mal, wozu Asphalttreten nicht alles nützlich sein kann.

Auf der Straße gewinnen wir zügig an Höhe und haben um die Mittagszeit am Col de l'Hospitalet mit 1304 Metern eine Höhe erreicht, die wir erst wieder in den Pyrennäen erklimmen werden. Hier auf der Höhe treffen wir auf die in einem Brunnen eingefasste Rochusquelle, die in früheren Zeiten starken Zulauf gerade auch von Jakobspilgern hatte, sagte man ihr doch heilende Wirkung bei Augenkrankheiten und offenen Wunden nach. Ich empfehle Anni, doch mal Siras Ohr reinzutunken. Darauf will sie sich nun nicht einlassen, ich habe aber genau gesehen, dass sie sich zwei Trinkflaschen damit abgefüllt hat. Sie soll das Wasser mal ganz schnell ihrem Hund verabreichen, vielleicht können wir Sira dann bald wieder diesen entstellenden
Verband abnehmen.

Nach einer entspannenden Mittagsrast an der Chapelle St.-Roch in der wärmenden Sonne verlassen wir bald die Straße und kehren auf den Jakobsweg zurück - und Sira wittert wieder ihre vorwegschreitenden Pilgerfreunde. Bei ihr im Kopf legt sich erneut ein Schalter um und sie zerrt wieder an der Leine. Glücklicherweise ist unsere heutige Unterkunft auf einem Bauernhof bei Le Rouget nicht mehr so weit und bevor es Sira geschafft hat, Anni richtig hochzukochen, sind wir da.

Schon beim Stiefelausziehen begrüßt uns Virgine, ein weiterer Gast unserer Gite und sofort sind sie und Sira ein Herz und eine Seele. Während Anni duscht und (seit langem) schmutzige Wäsche in die Waschmaschine wirft, hilft sie mir als Dolmetscherin bei der Reservierung einiger zukünftiger Unterkünfte. Gastgeber, die wegen eines Hundes Bedenken haben, werden schnell von Siras Harmlosigkeit überzeugt. Danke, Virgine!

Zu vorgerückter Stunde kommen noch Joseph und Paco an, zwei ältere Spanier und pensionierte Lehrer, mit denen wir beim Abendessen noch unsere Freude haben. Die beiden werden morgen ganz früh weiterziehen, mit Virgine werden wir übermorgen nochmal im selben Quartier zusammen sein. Und sie verspricht, uns dann wieder bei der weiteren Quartiersuche behilflich zu sein. Dafür habe ich heute abend ihr schmutziges Geschirr gespült.

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Kommentare: 3
  • #1

    Dani (Sonntag, 14 April 2013 19:08)

    Geile Fotos mal wieder!!! Und endlich hat euch der Frühling erreicht. Aber was muss ich lesen: Ihr geht ABKÜRZUNGEN?!?!?!?

  • #2

    Mama Ingrid (Sonntag, 14 April 2013 20:30)

    Na also, geht doch! ;-)
    Süß, wie Sira eure Mitpilgerer beschnüffelt, wie um zu prüfen, ob sie auch zum Rudel gehören.
    Schade, dass man die Fotos des Tages nicht auch noch vergrößern kann (oder kann das nur wieder ICH nicht?)
    SAieht alles schon ganz schön spanisch aus.
    Uihh, für nackte Füße und Arme hat die Sonne bei uns heute höchstens mal eine Stunde lang ausgereicht. Beim Marathon in Bonn hat der Wind bei bedecktem Himmel zuerst noch ganz schön gepfiffen.
    Hihi, der Bullen-Kabänes hat sicher nicht nur den Bauern, sondern auch Sira auf Trab gebracht.
    Viel Spaß beim Wandern in den Frühling!

  • #3

    Ralf (Sonntag, 14 April 2013 20:51)

    Gruesse aus Saint-Jean-Pie-de-Port sende ich Euch.

    Halte durch...ich hab heute 30 km`geschafft.