Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Sorgenohr!

Von Nasbinals nach St-Chely-d'Aubrac, 18 km

Von St.-Chely-d'Aubrac nach Espalion, 27 km

In der Nacht von Montag auf Dienstag schlafen Sira und ich nicht besonders viel. Ihr Ohr scheint schrecklich zu jucken und ich kriege sie kaum vom Kratzen abgehalten. Trotzdem gebe ich mein Bestes.

Als wir die Gite verlassen, bin ich immer noch glücklich, dass der Aufenthalt gut verlaufen ist. Dass Sira ohne jeden Einwand mit im Zimmer schlafen durfte. Dass die Männer auf unserem Zimmer kein Problem damit hatten. Dass der eine freundliche Herr sogar so nett war, unaufgefordert sein Bett mit mir zu tauschen, damit Sira davor schlafen konnte. Dass Sira uns auch in die Gemeinschaftsküche begleiten durfte. Es war einfach so, als gehöre sie dazu.

Ich bin froh, dass ihr wenigstens das vergönnt ist, wo doch sonst das Glück zur Zeit nicht unbedingt auf ihrer Seite ist. Wie Papa schon gesagt hat, möchte ich jetzt noch einmal genauer über Siras gesundheitlichen Zustand berichten. Vorneweg: Es geht ihr gut! Sie hat außer ihrem blöden Ohr keinerlei Beschwerden und läuft immer noch jeden Tag mit Freude. Der Tierarzt hat gesagt, die täglichen Wanderungen stellen kein Problem dar und wir dürfen weitergehen. Die gesamte Geschichte: Wie Ihr noch wisst, hat Sira sich vor sechs Wochen am Stacheldraht eine Verletzung am Ohr zugezogen. Die wurde nicht größer und hat sich auch nicht entzündet, ist aber jeden Morgen aufs Neue aufgeplatzt, wenn sie sich geschüttelt hat und konnte dadurch auch nicht abheilen. Am Freitag in Saugues musste ich sowieso zum Tierarzt für ein neues Halsband, also sollte der bei der Gelegenheit einen Blick auf Sira werfen, im Allgemeinen und auf das Ohr.


Er sagt, dem Hund geht es allgemein super und das Ohr will er fixieren, damit sie es sich nicht mehr "aufschütteln" kann. Dafür benutzt er etwas, was für mich wie Teppich-Klebeband aussieht. Ich denke: "Das geht nie wieder ab!" Er sagt: "Das soll ja auch halten..." Nagut, er wird ja wissen, was er tut. Sechs Tage soll der Verband draufbleiben. Mit einer verängstigten Sira und um Einiges ärmer verlasse ich die Praxis. Am nächsten Morgen hat sie die ersten wunden Stellen am Inneren des Ohres, das jetzt ungeschützt nach außen geklappt ist. Im Laufe der nächsten Tage kann ich zusehen, wie das offengelegte Innere des fixierten Ohres sich verändert. Es eitert und wird größer, und das rapide. In meinem Kopf hämmert leise, aber unaufhörlich der Gedanke, dass sich die Kompresse am Stacheldraht-Katschen festwächst und ich die tierärztliche Behandlung infrage stellen sollte. Vorgestern war ich beim nächsten Tierarzt. Der erzählt mir was von Entzündung, gibt mir antibiotische Tropfen fürs Innenohr und eine Salbe für die neue und eiternde Wunde. Den Verband des Kollegen stellt er nicht infrage, sondern rät mir, der Anweisung zu folgen und das Ganze bis Donnerstag so zu lassen. Als ich dem herpesähnlichen eiternden Ausschlag (der trotz Salbe schlimmer wurde) noch einen weiteren Tag beim Wachsen zugesehen habe, reicht es mir. Da wir die Nacht wieder mit Virginie, einer medizinisch-technischen Assistentin verbracht haben, sehe ich das als meine Chance an, den Hund mit vereinten Kräften von seinem Verband zu befreien. Virginie übernimmt fast das  meiste. Mit einer Engelsgeduld und ganz viel Liebe löst sie den Verband Stück für Stück. Der Arzt hat ganze Stümperarbeit geleistet. Das Material klebt wie die Hölle, er hat die dicken, extrem empfindlichen Haare und ein dickes Stück Haut mit festgeklebt und als wir die Mullbinde von der Stacheldrahtverletzung abziehen, ist alles wieder offen. Am Ende schüttelt sich Sira einmal und sie und wir und die ganze Terasse sehen aus wie frisch nach einem Mord.

Wir halten fest: Es ist alles nicht besser als vor dem ersten Tierarztbesuch. Ich hätte mir viel Geld und dem Hund eine Infektion und eine Menge Stress ersparen können. Da meint man es gut und geht zum Arzt und dann das! Naja, jetzt kämpfe ich weiter gegen ihre Leiden an und irgendwann werden wir die Lösung finden.

Als wir gestern Morgen Nasbinals verlassen, ist Sira jedenfalls fidel wie immer. Den einen oder anderen Pilger hat sie schon in der Nase, als wir uns die Höhen des Aubrac erkämpfen. Hier ist es wirklich sehr einsam. Keine Siedlungen, keine befestigten Straßen, nur wir, die Sonne und die schroffen Weiten. Papa liest aus seinem Reiseführer vor, dass diese Gegend hier früher als "Ort des Schreckens und weiter Einsamkeit" bezeichnet wurde. Räuber trieben ihr Unwesen und ermordeten wehrlose Pilger, woraufhin Mönchsritter ein Kloster und Hospiz zum Schutze der Pilger bauten, das inzwischen abgebrannt ist. Durch das "Tor der Brotlaibe" kam man und wurde versorgt, bei Nacht und Nebel wies die undurchdringliche Nebelglocke den Weg. Wenn ich diese Geschichten höre, schaudert es mich. Und ich fühle mich schuldig, weil wir scherzen, wenn die Glocken uns bei Ankunft grüßen, wo sie doch früher so manches Leben gerettet haben.

Wir müssen einige Bäche und breite, moorige Flächen überqueren, um auf den Weideflächen vorwärts zu kommen. Irgendwie kommt alpines Feeling auf; die Höhenluft, die Weite, Sonne, Schneefelder... Einfach schön!

Bald holen wir die ersten Pilger ein, Schweizerinnen, Holländerinnen, Luxemburger, Franzosen... Alles ist dabei. Jeder quatscht uns an. "Ah, die Kölner!", "Wie geht's dem Hundeohr?" Mit jeder/jedem reden wir ein wenig. Es tut gut, wenn man merkt, dass man so langsam in einer Gemeinschaft ankommt. Und irgendwie ist es auch cool zu wissen, dass wir hier schon fast ein bisschen berühmt sind. Wobei wir uns natürlich ein bisschen in Siras Ruhm baden. Alle sind ganz verliebt in sie. Virginie bezeichnet sie später als "das Maskottchen des Camino".

Als wir wieder unter uns sind, besteigen wir den höchsten Punkt der Via Podiensis auf 1368 m. Obenauf steht eine Notunterkunft, ein Bretterverschlag, in dem eine Bank an die Wand genagelt ist, sonst gibt es hier nichts. Man mag mich als Weichei bezeichnen, aber wenn hier der Wind so pfeift, bin ich doch froh, noch immer jede Nacht in einem warmen und weichen Bettchen schlafen zu dürfen.

In Aubrac entscheiden wir uns für eine Pause. Papa hat den richtigen Riecher; das Hotel mit zugehörigem Restaurant sieht geschlossen aus. Er schaut um die Ecke in den Garten und siehe da! - voller Pilger, größtenteils bekannte Gesichter. Schön, da macht man gern Pause! Wir gönnen uns einen Leckerbissen, eine Platte mit Quiche, Käse, Salat, Salami und irgendetwas Leberiges. Wir sitzen kaum, schon sind wir von Paparazzi umgeben. Jeder will endlich ein Bild von Sira machen. Ja, gut, ist nicht schlimm, wenn wir mit drauf sind... Na toll, herzlichen Dank. Jeder, der sie noch nicht kennt, bekommt von anderen Pilgern unsere Geschichte erzählt. Anerkennendes Nicken allerseits. Dankeschön!

Das alte Hotel d'Aubrac, in dessen Garten wir pausieren, war wohl einmal DER Treff für Berühmtheiten. Französische Schauspiel-Größen sowie Zinedine Zidane, Johnny Depp. Da reiht sich Sira gern mit ein...

Mich erinnert das Innere des Hotels mit seinem hochkarätigen Interieur, seiner etwas kauzigen Besatzung und seinem gesamten Flair an unser gutes altes Elmoresland am Schladerner Wasserfall. Unheimlich schön!

Nach der Pause steigen wir kontinuierlich ab nach Saint-Chely. Wir passieren einen unwirklich wirkenden, aus der Landschaft herausragenden Basaltschlot. Die Natur denkt sich manchmal Sachen aus... Tsts...


In Belvezet treffe ich auf Els, die in diesem toten Ort verzweifelt nach Wasser sucht. Ich gebe ihr etwas von meinem, da ich in Aubrac noch für Nachschub gesorgt hab. Gute Tat des Tages: Check!

Da wir keine Eile haben und fast am Ziel sind, machen wir nach einem harten Abstieg über übles Geröll noch einmal Pause. Eine Holländerin kommt gehetzt herauf: "Habt ihr Els gesehen?" Sie ist wohl falsch abgebogen. Wir können nicht wirklich weiterhelfen und die Frau zieht von dannen.

Nach einer weiteren Weile Abstieg erreichen wir direkt am Eingang von Saint-Chely-d'Aubrac unsere Gite. Ich checke schon auf die Entfernung: Yes, eingezäunter Garten! Wir folgen den Hinweisschildern bis auf die Terrasse und hauen uns in die Sonne, während wir auf Virginie warten. Die soll klären, wie wir ins Haus hineinkommen. Dummerweise reicht unser Französisch immer noch nicht für die komplizierten Hinweisschilder...

Sira läuft bereits ohne Leine durch den Garten und kann es kaum fassen. Ich auch nicht...

Während wir warten, kommen die Holländerinnen den Berg hinunter, mit Els im Schlepptau. Also ist das auch wieder gelöst.

Als Virginie kommt, besorgt sie mit Papa den Schlüssel und unser Abendessen und wir bestaunen unser Heim für eine Nacht. Es ist wirklich schön hier! Wir sind ganz unter uns, das gesamte Haus wirkt neu gemacht und man fühlt sich einfach wohl.

Als wir Sira fertig gequält haben (s.o.), verbringen wir noch eine Weile damit, die Terrasse auf Knien zu reinigen, weitere Unterkünfte zu besorgen und etwas zu kochen. Bei Cidre sitzen wir noch eine Weile zusammen und die Gespräche werden persönlicher. Schade, dass dies unser letzter Abend auf dem Jakobsweg mit Virginie gewesen sein wird. Sie beendet ihre Pilgerschaft morgen wie geplant. Schade! Wir sind der festen Überzeugung, dass auch sie definitiv zu Jakobus' Bodentruppen gehört, so sehr, wie sie uns mit Sira und unseren Übernachtungen immer wieder aufopferungsvoll geholfen hat...

Heute morgen steht eins fest: Mein Hund gefällt mir weitaus besser ohne den blöden Verband! Ok, ihr Ausschlag sieht immer noch nicht besser aus und das pinkfarbene Eosin am Ohr, eine Tinktur aus der Apotheke, lassen sie auch irgendwie bekloppt aussehen, aber sie fühlt sich zusehends wohler. Während des gesamten Morgens liegt sie vor dem Haus in der Sonne und bewacht ihr neues Domizil. Ich glaube, hier könnten wir bleiben.

Als ich sie für ihre letzte morgendliche medizinische Versorgung zu mir rufe, ist sie mehr als misstrauisch. Uns zwei Weibern traut sie nicht mehr! Hilft nichts, da müssen wir durch.

Nachdem alles geregelt ist, machen wir uns heute um zehn, über eine Stunde später als sonst, auf den Weg. Die Sonne gibt bereits richtig gut Gas. Wir verabschieden uns im Ort herzlich von Virginie und ziehen unserer Wege.

Unsere übliche Pilgertruppe ist vermutlich längst über alle Berge. Sira geht keiner Fährte nach, sondern gemächlich neben mir her. Wir folgen eine Weile der Landstraße, bis wir bei Cambrassats die ersten, uns fremden Pilger treffen. Das zweite uns unbekannte Paar, das am Wegesrand rastet, begrüßt uns direkt mit einem Wortschwall: "Wir haben schon so viel von Euch gehört, endlich sehen wir Euch. Der Hund ist so schön, was ist mit dem Ohr? Etc..."

Hach ja, Stars haben es schwer...


Auf dem weiteren Weg wandern wir, wie immer, mit allen Sinnen. Fotos oder unsere Berichte hier können das Gesamtbild gar nicht so wiedergeben; der Ruf des Kuckucks, der uns jeden Morgen grüßt. Der Geruch frisch gestreuter Gülle. Der Bach, der in der Ferne rauscht. Wind, der in den Bäumen rauscht. Vögel, die eigenartig zwitschern. Der Geruch frisch gemolkener Milch. Die Sonne, die die Haut wärmt. Einfach schön!

In L'Estrade eine freudige Überraschung: Der alte Dorfbackes wurde vom pilgerfreundlichen Bauernpaar zum Pilgerstopp umgestaltet. Es gibt Kaffee, Tee, O-Saft, kaltes Wasser, Kekse, Sitzgelegenheiten, und sogar Pilgermuscheln und -stäbe, alles mit Honor-Box. Und Herr Bauer und Frau Bäuerin gesellen sich gern zu einem Schwätzchen dazu!

Die Pilger des heutigen Tages sind auch weiterhin nicht die der letzten Tage. Lustig, wieviel ein verspäteter Aufbruch ausmacht.

Als wir weiterlaufen, sitzt ein Pilger am Wegesrand, einen Block auf dem Schoß und einen Bleistift in der Hand. Er zeichnet. Wo er Pause macht, da zeichnet er. Auch eine sehr schöne Art der Erinnerung! Hätte ich aber keine Ruhe für...

An Kastanien entlang laufen wir hinab ins Lot-Tal. Links neben uns eine gelb leuchtende Wiese: Der Löwenzahn blüht! An einem rauschenden Bachlauf kann Sira reichlich trinken und kühlt sich überraschenderweise sogar noch die Beine bei einem Spaziergang ans andere Ufer. Aber so richtig outdoortauglich ist der Hund immer noch nicht. Die Zunge hängt bis auf den Boden, aber Madame trinkt ja noch lange nicht aus jeder Pfütze. Wenn Frauchen die Schüssel mit gutem Leitungswasser vollmacht, hat das schon mehr Stil und es trinkt sich viiiiel besser.

An einer Kreuzung überlegen wir, welchem Weg wir folgen sollen. Der Teerstraße, vielleicht flacher ansteigend, aber scheinbar in der prallen Sonne oder den längeren, steilen, aber schattigen Waldweg? Ich entscheide mich dem Hund zuliebe für den Schatten. Keine gute Idee! Nach der ersten Kurve laufen wir durch die pralle Sonne. Na toll! Und dann auch noch steil bergauf!

Auf der Höhe werden wir belohnt mit einem Trinkwasserbrunnen mit kaltem Wasser und einer Bank im Schatten. Sira streckt alle Viere von sich und schläft tief und fest ein.

Vor uns laufen Hühner durch die Wiese. Ein Hahn führt ein eitles Tänzchen für seine Henne auf. Wie im wahren Leben...

Plötzlich Lärm im Gehege. Laut Papa wurde ein Ei gelegt. Pah, wenn da bei uns zu Hause immer so eine Aufregung wäre...

In Siras Tiefschlafphase kommt eine Katze herangeschlichen. Sie steht einen guten Meter von Sira entfernt. Papa und ich staunen nicht schlecht. Lautlos umfasse ich die Leine fester. Umsonst. Die Katze trollt sich.

Als wir weiter gehen wollen, kommt sie noch einmal provokativ herangetänzelt, diesmal nicht unbemerkt von Sira. Da ich vorbereitet bin, ist das Thema schnell erledigt und wir laufen hinab nach St-Come-d'Olt.

 

Die alte Stadt gefällt mir sehr gut, anders als die merkwürdigen Menschen hier. Niemand grüßt uns oder nickt zumindest wohlwollend, wie wir es gewohnt sind. Auch die Pilger, die wir an der Kirche treffen, wirken abweisend. Soll mir egal sein...

Im Folgenden laufen wir immer an der Lot entlang über die Straße. Nur wenig Schatten ist uns vergönnt und Sira hechelt ordentlich. So langsam fürchte ich mich vor Sonnenbrand. Und vor der Hitze Spaniens. Hier sind es noch nicht einmal 30 Grad und ich schmilze schon.

An der alten Kirche St. Perse von Espalion treffen wir endlich ein bekanntes Gesicht der letzten Tage wieder. Sie geleitet uns ein Stück bis zu unserer Unterkunft, bevor sie Kurs auf ihre nimmt.

In unserer Gite haben wir das 6er-Zimmer mit eigenem Balkon ganz für uns allein. Sira inhaliert bereits die Katze, die sich für gewöhnlich auf dem Balkon aufhält, während wir uns einrichten.

Sira lässt sich ihr Sorgenohr erstaunlich gut von uns versorgen und den Rest des Abends verbringe ich nuuuuur mit Bloggen. Ein Pilgerleben kann so einfach sein!

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Kommentare: 3
  • #1

    Dani (Donnerstag, 18 April 2013 15:56)

    COOL! Also, wenn ihr zurück seid, brauch ich auf jeden Fall erst mal ein Autogramm...

  • #2

    opaundafrikapilgern (Donnerstag, 18 April 2013 17:57)

    Sira: Aber Dani, ich kann doch so schlecht einen Stift festhalten!

  • #3

    Mama Ingrid (Donnerstag, 18 April 2013 21:56)

    Arme Sira-Maus! Man glaubt nicht, wie viele Engel auf der Erde unterwegs sind (Virginie)
    Sture Pilger sollte man einfach ignorieren (sie haben den Sinn des Pilgerns vielleicht nicht richtig erfasst). Gott sei Dank gibt es ja genügend andere. Find ich süß, wie bekannt Sira ist. Wie machen die das denn? Gibts da ne Rundmail an alle Pilger: "Da kommen gleich so bekloppte Deutsche mit nem Hund und der hat...", oder wie?
    Küssi