Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Nicht nach jedem Bergfest geht's bergab...

Von Grealou nach Limogne-en-Quercy, 28 km

Der zähnefletschende und knurrende Schäferhund kommt auf uns zugerannt. Noch einen Meter, dann ist er bei uns. Er macht einen Satz und - ... Endlich weckt mich mein Wecker mal zur richtigen Zeit! Allerdings mag ich nicht aufstehen. Es ist schweinekalt. Im Zimmer gibt es keine Heizung. Sira wollte sich gestern trotz kaltem Boden nicht in das - zugegebenermaßen etwas knapp bemessene - Körbchen legen, das Innenleben ohne Körbchen gefiel ihr dann aber doch. Sie hat also nicht gefroren. Im Gegensatz zu mir. Die Wärmflasche, die Joze mir abends feierlich überreicht hat, hat zwar Heimatgefühle geweckt, nachts dann jedoch leider auch irgendwann ihr Pulver verschossen. Und dann diese Qual, aus dem wenigstens halb warmen Bett ins eisige Bad zu schlüpfen! Aber hilft ja nichts.

Nach einem außergewöhnlichen Frühstück mit Schokomüesli (die Schweizer wissen eben auch, was gut ist...) verabschieden wir uns von Anne und laufen in den herrlich sonnigen Tag hinein. Unsere Körper werfen auf dem Weg bereits lange Schatten. Gerade erzähl ich Papa noch von der zufriedenstellenden Heilung von Siras Ohr, da platzt es auch schon wieder auf und färbt ihr Hals und Kopf ein. Super... Warum sollte es auch anders sein als an jedem anderen Tag?! Aber es sieht TROTZDEM besser aus... Und heilt auch bald ganz zu, davon bin ich überzeugt.

Bald erreichen wir die wunderschöne, sanft geschwungene Hochebene. Soweit wir sehen können nichts als bewaldete Hügel und Wiesen. Keine Geräusche außer unseren Schritten, dem allgemeinen morgendlichen Vogelgezwitscher und dem täglichen Gruß des Kuckucks. Hier fühle ich mich sorglos. Und zuversichtlich. Wir schaffen das schon alles irgendwie.

Als wir eine unwirkliche Buschlandschaft passieren, trottet plötzlich ein Pferd auf uns zu. Es teilt sich sein Revier mit zwei Rindern. Insgesamt ist es einfach idyllisch.

Als wir den zugehörigen Hof passieren, schießen drei Hütehunde bellend auf uns zu. Einer von ihnen gibt scheinbar den Ton an. Kurz vor uns kommt er zum Stehen, dreht sich zu seinen Kumpanen um, bellt einmal und keiner von ihnen kommt weiter auf uns zu. Sie bellen zwar noch, lassen uns aber passieren. Erstaunlich ruhig und gelassen gehen wir vorbei. Yes, we did it! Sira schüttelt sich den Ärger ab, wir loben und tätscheln sie. Ich fühle mich gut.

Als wir hinunterlaufen nach Cajarc, fällt uns auf, dass die Landschaft sich verändert hat. Wo wir doch gestern durch Blütenmeere und Blumenwiesen gelaufen sind, beherrscht jetzt ein einheitliches Grün das Bild.

In Cajarc übermannt uns der Hunger. Wir kaufen ein Baguette und setzen uns zur Pause an den Fluss Lot. Wir bekommen Brot, Sira einen köstlichen algig-glitschigen Knüppel aus dem Wasser. Jedem das, was ihm schmeckt...

Als wir gerade unsere Karten studieren, kommt ein Passant vorbei. Ungefragt erklärt er uns den weiteren Weg und rät uns zu einer kurzen Variante. Wir nehmen an... Solch freundliche Menschen begegnen uns immer wieder. Ich zähle diese bereitwilligen Helfer zu den guten Seelen unserer Tour, die diesen Weg auch ein bisschen ausmachen.

Als wir die Höhe nach Andressac erklommen haben, kommen immer mal wieder sowohl von rechts als auch von links Hunde angeschossen. Siras und mein Verhalten in solchen Situationen normalisiert sich langsam wieder. Mein Puls bleibt fast ruhig, bei Sira entscheidet die Sympathie. Allerdings war auch noch kein Schäferhund dabei...

Ich glaube, alles in allem fühlt Sira sich auf unserer Reise sehr wohl. Sie wirkt immer wieder, als wäre das alles hier ein großes Abenteuer. Wenn wir durch Wald oder Buschgelände laufen, zieht sie ihre Nase wie einen Staubsauger über den Boden. Es gibt jeden Tag viel zu schnüffeln. Manchmal soviel, dass sie, wie heute, die gesamte Nase gelb gefärbt hat von Blütenstaub. Und wenn wir über Geröllpfade und zwischen Mäuerchen entlang laufen, scheucht sie Eidechsen auf und jagt dem schlängelnden Etwas bis in die kleinste Fuge nach. Die Sache mit dem Ohr belastet sie nicht sonderlich und mit der nervigen medizinischen Versorgung mehrmals täglich hat sie sich auch gut abgefunden. Sie genießt es, jeden Tag von Pilgern und Herbergseltern gestreichelt und verhätschelt zu werden. Ihre Decke hat sie als Zuhause auf Zeit akzeptiert, freut sich aber über jede weichere Unterlage. Auf ihr Sofa mit ihrem Herrchen muss sie allerdings noch ein Weilchen warten.

Während wir weiter durch Felder und Wäldchen wandern, stellen wir wieder Veränderungen der Umgebung fest. Wir laufen wieder durch blühende Landschaften. Immer wieder strömen uns benebelnde Blütendüfte in die Nase. Die Löwenzahnfelder entwickeln sich so langsam zu Pusteblumenteppichen. Die Sonne hat auch auf unseren Pfaden ganze Arbeit geleistet. Wo man vor einer Woche noch durch Matsch gewatet wäre, ist der Lehmboden nun spröde, ausgedörrt und aufgesprungen. Der Weg sieht aus wie in der Wüste. Als habe es Wochen nicht geregnet.

Als wir nach einem geeigneten Plätzchen zur zweiten Rast Ausschau halten, erreichen wir bei St.-Jean-de-Laur die Hinterseite eines alten Waschhauses. Jakobsmuscheln hängen an einer Schnur. Ein Schild ist angebracht: "Pause" ... "Cafeteria" ... Yes! Genau das Richtige! Als wir die Vorderseite des Häuschens sehen, werden wir allerdings enttäuscht; Es ist noch nicht bewirtschaftet! Wenigstens können wir von den Plastikstühlen und dem "eau potable" profitieren. Wir ziehen die Schuhe aus und lümmeln uns in der Sonne. Nach einer Weile stelle ich fest, dass sich immer mehr Fliegen im Dunstkreis meiner Füße versammeln. Was wollt ihr mir damit sagen, Leute?!?

Grundsätzlich entwickle ich auf dieser Tour ein anderes Ekelempfinden als zu Hause. Mich schockiert so leicht nichts mehr... Vor allem, was Sira betrifft. Andauernd Kackebeutel bestücken, Umgang mit Siras Eiterohr und der Tatsache, dass sie ganz wild darauf ist, Kruste oder Eiter zu fressen. Der Moment, in dem sie eine Überdosis Gras wieder hochwürgt. Das begeisterte Fressen von Pferde- und Kuhmist. Papa findet das alles ziemlich ekelig (verständlicherweise). Tja, ein Hundeleben ist nicht immer appetitlich...

Bald erreichen wir unsere "gite communal" in Limogne-en-Quercy. Wir schlafen direkt über einer Art lateinamerikanischer Tanzschule. Man hört immer wieder die gleichen dreißig Sekunden eines Liedes und eine Frau, die immer "Hey! Hey!" schreit. Wir lachen herzhaft.

Bis auf Anne haben wir unsere Pilgertruppe der ersten Tage aus den Augen verloren. Es gibt auf der Strecke sehr viele Übernachtungmöglichkeiten, aber leider nicht für uns. Da wir auf bestimmte Unterkünfte angewiesen sind, sind wir vermutlich allen davongelaufen. Schade! Aber das ist eben der Preis, den wir für unsere ungewöhnliche Expedition zahlen. Eine schwer siraverliebte Französin kreuzt seit einigen Tagen mehrfach täglich unseren Weg. Mal sehen, wie lange das so bleibt.

Wie Ihr seht: die Leute kommen und gehen. Genauso wie die guten und die schweren Tage. Und wir gehen auch: Durch Schmerz, Angst, Leid und Zweifel, ebenso wie durch Begeisterung, Muße, Spaß und Genuss.

Weiter geht's!

Bereit für die zweite Hälfte!

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Kommentare: 3
  • #1

    Mama Ingrid (Dienstag, 23 April 2013 23:12)

    Auf gehts>! Die zweite Hälfte ruft! Ihr werdet sehen, wie schnell ihr euch jetzt dem Ziel nähert.
    Anni, haben deine Wandersocken eigentlich auch solche Luftlöcher wie Papas?
    Küssi

  • #2

    Dani (Mittwoch, 24 April 2013 09:11)

    Ich kann an dieser Stelle mal wieder nur sagen, dass ich sehr stolz auf euch bin!

  • #3

    Sebastian (Mittwoch, 24 April 2013 22:46)

    Hey ihr Pilgersleut,
    es gibt Neuigkeiten im Pressebereich.
    Ich bin Stolz auf euch! Ab jetzt ist der Weg zum Ziel kürzer als der Weg zurück nach hause. Ab jetzt darfst du jederzeit fragen: "Sind wir bald da?".. :-)