Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Unter Deckenbergen

Von Lectoure nach La Romieu, 24 km

"Madrid kaputt!" - Michel fasst kurz und knapp das Ereignis treffend zusammen. Wie recht der Mann hat! Im Champions-League-Halbfinale verliert Borussia Dortmund zwar mit 0:2 gegen Real Madrid, aber nach einem 4:1 Hinspielerfolg stehen die Ruhrpott-Jungs jetzt im Endspiel. Im Wohnzimmer von Ginette und Michel, dem Gastgeberehepaar unserer Gite, haben Johan, Pilgerfreund Jean George aus dem Elsass, Michel selbst und ich die Freude, diesem denkwürdigen Ereignis beizuwohnen. Johan, als heißer Dortmund-Fan, ist 96 Minuten lang dem Herzschlag nahe. Nanni schläft derweil bereits in ihrem Zelt, muss aber natürlich nach Johans Rückkehr mit hängenden Augenlidern den Triumph Johans teilen. Ein Mann muss sich eben auch mal mitteilen können.

Für Anni und mich ist die Nacht nur halbgut. In Ermangelung eines funktionierenden Heizkörpers haben wir die Nacht über mehrere Decken über uns angehäuft. Je länger wir nun aber drunterliegen, umso mehr haben wir das Gefühl, plattgedrückt zu werden. Wenn wir Finger- oder Fußspitzen frische Luft atmen lassen wollen, sind diese in Sekunden schockgefroren. Erholsamer Schlaf hält sich also in Grenzen.

Als Nanni und Johan am Morgen um kurz vor 7 Uhr von ihrer Zeltwiese zu uns ins Zimmer kommen, um das Bad und die Küche mitzubenutzen, hält Johans gute Laune immer noch an, wird aber doch beträchtlich eingetrübt, als auf einmal Gite-Betreiberin Ginette in der Tür steht. Offensichtlich möchte sie sich davon überzeugen, dass die beiden Camper nicht die Nacht in unserem Zimmer verbracht haben. Dann müsste dafür schließlich noch kassiert werden. Johan kann wahrheitsgemäß diesen Verdacht zurückweisen, ist aber stinksauer auf Madame. Michel, der Fußball-Fan, liegt ihm da schon eher.

Gemütlich marschieren wir los, heute haben wir es nicht weit. Es ist noch keine Stunde vergangen, da ziehen wir in Lectoure ein. Der 45 Meter hohe Glockenturm der Kathedrale St.-Gervais et St.-Protais erhebt sich eindrucksvoll vor uns. Für diesen kleinen Ort ein gewaltiges Bauwerk. Ich kann natürlich nicht daran vorbeigehen und muss einen Blick reinwerfen. Kein Mensch ist um diese Zeit drin, dafür empfängt mich leise Kirchenmusik vom Band. Einfach schön! In diesen Momenten werde ich tatsächlich immer etwas andächtig.

Johan ist in dieser Zeit auf dem Weg zu einem großen Supermarkt, die Vorräte sind aufgebraucht. Anni und Nanni haben derweil schon ein kleines Cafe gefunden, das über ein Wifi-Netzwerk verfügt. Beide haben einiges hochzuladen und hoffen, das hier tun zu können. Ein großer Erfolg wird das nicht, dafür schmeckt mir der Kaffee und der Crepe draußen auf der kleinen, von den ersten einfallenden Sonnenstrahlen erwärmten Straßenterrasse köstlich. Johan kommt zurück mit einer Fehlanzeige. Der Supermarkt hat geschlossen! Heute ist schließlich der 1. Mai, einer der höchsten Feiertage in Frankreich.

Auf unserem Weg aus Lectoure heraus, setzt sich die Sonne immer mehr durch. Es wird beständig wärmer und damit Zeit zum Zippen! Eine hervorragende Erfindung, mittels Reißverschlüssen aus langen Wanderhosen Shorts zu machen. Anoraks, Fleecejacken oder Pullis verschwinden im Rucksack - wir verspüren endlich mal wieder Wärme auf der Haut. Einige Feldwege vermeiden wir heute, nehmen dafür lieber kleine Straßen, auch wenn sie geringe Umwege bedeuten. Durch Matsch zu schlingern, ist für uns jetzt mal keine wünschenswerte Option.

Kurz vor dem winzigen Ort Mersolan kommen wir an einen Picknickplatz. Unmittelbar davor steht ein Holzhäuschen, kaum größer als ein Gartenhäuschen. Sein einziger Zweck: dem vorbeiziehenden Pilger eine kleine Auswahl an Lebensmitteln und Getränken zur Verfügung zu stellen, die diese gerne annehmen. Zwei der Kunden sind Johan und ich. Brot, Käse, etwas Süßes und zu trinken. Zufrieden machen wir uns damit am Picknicktisch breit.

Mit am Tisch sitzt zunächst noch ein älterer schweigsamer Pilger. Dann steht er auf und zieht mit schweren Schritten weiter. Er macht keinen guten Eindruck. Wer weiß, welche Schicksale sich hinter manchem verbergen, der auf dem Jakobsweg unterwegs ist. Ich glaube, so einige machen das nicht nur zum reinen Vergnügen. Bei einer nächsten Rast bei einem größeren Teich stoßen wir wieder auf ihn. Genauso wie uns umschwirren ihn Hunderte von kleinen, aufdringlichen Fliegen. Während wir schnell wieder flüchten, bleibt er noch im Gras sitzen, den Blick geradeaus gerichtet. Wir versuchen, die Rast auf einem Hügel nachzuholen, werden aber wieder von Fliegen vertrieben. Während wir uns wieder die Rucksäcke aufwerfen, kommt der alte Herr schwer atmend an uns vorbei. Wir können es kaum mitansehen. Johan fragt ihn spontan, ob er ihm den Rucksack tragen soll. Er lehnt lächelnd, aber bestimmt ab. Was hat dieser Mensch wirklich zu tragen?!

Bei steigenden Temperaturen nähern wir uns unserem Etappenziel, den wenigen Häusern von Moncade und unserer dortigen Gite. Nanni und Johan wollen noch einen Kilometer weiter bis La Romieu. Wir haben dort keine Unterkunft wegen Sira bekommen, die beiden aber wollen ihr heute auf den Tag genau fünfjähriges gemeinsames Glück in einem Mobil-Home auf dem dortigen Campingplatz verbringen. Wir verabreden uns für morgen und sie ziehen sich in die Zweisamkeit zurück.

Zehn Minuten später sind wir drei Pilger mit den acht Beinen in unserer Gite Beausoleil, zunächst noch eine Weile alleine, dann kommt eine achtköpfige Gruppe dazu. Das Palaver, das sie nach ihrem Abendessen veranstalten, ist nicht ohne. Hoffentlich wecken sie Anni nicht wieder auf. Sie schläft friedlich neben mir im Bett, mit ihrem kleinen Teddy im Arm.

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Kommentare: 1
  • #1

    Dani (Donnerstag, 02 Mai 2013 08:48)

    Die Fliehen dürften das Gleiche denken wie Sira den ganzen Tag: "Hmmmmmm, lecker Pilger...!"