Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Kurz mal fehlgeleitet

Von Pamplona nach Puente la Reina, 30 km

Seit heute herrschen geänderte Bedingungen: Wir sind mit einer Zeltausrüstung unterwegs! Wie oft wir das Zelt wirklich einsetzen werden, steht auf einem anderen Blatt, aber es beruhigt, es dabei zu haben. Zunächst sollte annehmbares Wetter sein, bei Regen und Kälte brauche ich alter Sack das nicht mehr und ich glaube, Anni auch nicht. Und sollte es für mich brauchbare finanzielle Alternativen geben, gönne ich meiner Tochter auch gerne das Mehr an Bewegungsfreiheit für sich und ihren Hund. Sollte es aber wirklich nötig sein, für Anni und Sira gibt es wirklich kein Dach über dem Kopf, dann kann ich es mir sehr gut vorstellen, mit den Beiden irgendwo am Busen der Natur zu zelten.

Voraussetzung ist natürlich, dass wir alles transportiert bekommen. Eine gute Grundlage dafür ist natürlich der von Fritz Kleinert aus der Gite in Lamothe an mich ausgeliehene Wheely. Fritz, nochmals meinen herzlichen Dank für deine Großzügigkeit und dein Vertrauen!

Bereits um 5.30 Uhr, eine halbe Stunde früher als mittlerweile üblich, geht der Handywecker. Noch vor dem Frühstück sortieren Anni und ich ihre Siebensachen neu und verpassen meinem Wheely und Annis Rucksack eine andere inhaltliche Struktur. Wir werden uns umgewöhnen müssen. Bisher hatte alles seinen Platz, wir wussten, wo alles war. Ab heute wird es jetzt erst mal wieder etwas dauern, bis wir z.B. wissen, wo die Bordapotheke oder das Handy-Ladegerät zu finden sind .

Als ich zwei Stunden später meinen zweirädrigen Packesel aus dem zweiten Stockwerk unserer Unterkunft bis ins Erdgeschoss gewuchtet habe, bin ich für heute das erste Mal etwas erschöpft. Wheely hat doch einiges an Gewicht zugelegt, Annis Rucksack ebenfalls. Veronika schläft noch, als wir zwei neu ausgestatteten Pilger die gestern abend noch betriebsame Gasse betreten. Die Interimspilgerin ist fußlahm und möchte heute von Pamplona bis Puente la Reina mit dem Bus fahren. Vernünftige Entscheidung!

Das Hinausfinden aus Pamplona stellt an uns eigentlich keine großen Herausforderungen. Große Muschelsymbole zieren die Fußwege und dick aufgemalte gelbe Pfeile an Hausecken, Ampeln und Laternenpfählen lassen keine Zweifel aufkommen. Und doch sind auf einmal alle Zeichen verschwunden. Eine kleine Ablenkung ... und patsch! Unser Wanderführer hilft uns da im Moment auch nicht weiter - aber Annis Navi! Eine halbe Stunde später sind wir wieder, ohne großen Zeitverlust, auf dem richtigen Weg und reihen uns brav in den Pilgerstrom ein.

An dieser Stelle muss ich mal was zu dem Stichwort "Pilgerstrom" sagen. Wer sich über die Vielzahl der Pilger auf dem Jakobsweg beschwert, sollte zunächst einmal bedenken,dass er selbst ein Teil davon ist. Viele von diesen Pilgern haben besondere Gründe dafür, dass sie sich auf diesem Weg befinden. Auf manchen Teilstrecken deutscher Premium-Wanderwege ist das Menschenaufkommen nicht unbedingt geringer, erst recht nicht auf manchen Wegen in den Alpen. Und - es ist einfach schön zu erleben, wie man sich praktisch bei jeder Begegnung zulächelt, sich mit einem (spanischen) "Hola!" oder "Bon/Buen Camino!" grüßt oder sogar einige Worte mehr wechselt, ja sogar manchmal einige Stunden oder Tage zusammen geht. Hier gibt es keine Schranken zwischen sozialen Schichten oder Nationalitäten, alle sind einfach nur Pilger und haben ein gemeinsames Ziel - anzukommen. Nicht nur die sportliche Leistung, die religiöse Motivation oder das kulturelle Erleben zählen, sondern gerade auch die Chance, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Mir jedenfalls gefällt das.

Dieser Pilgerstrom zieht nun auf die Passhöhe des Puerto del Perdón hoch, auf dessen Bergrücken 40 gigantische Windräder zur Stromerzeugung stehen. Anfangs geht es auf breiter Piste und gehfreundlichem bzw. Wheely-freundlichem Untergrund sanft bergan, dann wird es steiler, schottriger, entschieden mühsamer. Dazu sticht die Sonne recht ordentlich, obwohl über manchen Bergen und kleinen Ortschaften in der Umgebung gut sichtbare Regenschauer niedergehen. Trotz mehr zu transportierendem Gewicht kommen wir gut den Berg hoch, überholen sogar andere, die mit kleinem Rucksack unterwegs sind. Die antrainierte Kondition der letzten Wochen macht sich doch ab und zu bemerkbar.

Bald stehen wir oben am Pass und haben, zusammen mit vielen anderen Pilgern, unsere Freude an der stählernen Darstellung der mittelalterlichen Pilgergruppe, die in keinem Jakobsweg-Film oder -Buch fehlt. Silhouettenartig steht sie vor dem inzwischen regengrauen Himmel, denn eine der dahinjagenden Schauerwolken hat nun auch den Puerto del Perdón erreicht. Das passt sogar irgendwie zu der Stimmung hier oben. Und man kann sich vielleicht ein wenig mehr in die Lage der damaligen Pilgerströme hineinversetzen, die Wind und Wetter nicht mit Marken-Outdoor-Bekleidung trotzen konnten, sondern zu ganz anderen Bedingungen auf dem Weg waren.

Der Weg vom Pass hinunter wird schwierig. Eine üble Geröllpiste führt eine Zeit lang steil hinunter und mein Wheely hat kräftig Arbeit. Glücklicherweise flacht die Strecke ab, als ein kräftiger Schauer niedergeht. Als wir uns zusammen mit anderen Pilgern in Muruzábal hinter einer Hauswand vor ihm in Sicherheit bringen, ist er aber auch schon wieder so gut wie vorbei.

Der Asphalt dampft, als wir uns von der Hauswand lösen und einen Umweg einschlagen. Ich lasse bei Anni durchblicken, dass ich gerne die Möglichkeit wahrnehmen und bei der kleinen Kirche Eunate vorbeigehen würde. Und da die liebe Tochter ihrem Vater nicht viele Wünsche abschlagen kann, machen wir uns auf einer breiten Schotterpiste dorthin auf die zusätzlichen vier Kilometer, jetzt mal wieder bei schönstem Sonnenschein.

Als wir die Kirche erreichen, ist die Tür von Eunate verschlossen, aber einem kleinen Schild können wir entnehmen, dass sie um 16 Uhr aufgeschlossen wird, also in 40 Minuten. Da sowieso noch eine Rast ansteht, also kein Problem. Nach einem viermaligen Glockenschlag öffnet sich die Tür eines kleinen Nachbargebäudes, eine stattliche Frau mit Schlüssel tritt heraus, geht zügigen Schrittes hinüber zur Kirche, die eher eine etwas größere Kapelle ist und schließt auf. Inzwischen haben sich hier außer uns noch andere Pilger versammelt, die nun in dieses kleine romanische Gotteshaus hineinströmen, dessen Ursprung unklar ist. Seine achteckige Form und andere Indizien lassen allerdings eine Grabeskirche des Templerordens vermuten.

Anni lässt mir den Vortritt und bleibt zunächst bei Sira. Ich gehe zwar nicht, wie im Wanderführer empfohlen "... zwei- bis dreimal genussvoll schweigend barfuss über das Pflaster, welches um die kleine Kirche verläuft. Man sagt, man könne dann die mysteriöse spirituelle Kraft besser spüren, welche diesen magischen Ort umgibt", aber dafür bin ich einer von etwa 15 Pilgern, die sich in der Kirche umsehen. Leise und andächtig in den Bänken sitzend finden sich nur wenige, die meisten unterhalten sich mehr oder weniger laut, posieren allein oder in Gruppen vor dem kleinen Altar für die Fotokameras und gucken ganz verständnislos, als von einer älteren Frau aus der letzten Bank ein leises, fast bittendes "Schsch ..." kommt. Fast wünscht man sich ins Mittelalter zurück, als hier die Pilger noch für einen weiteren glücklichen Verlauf ihrer Pilgerschaft gebetet haben.

In Eunate müssen sich die Pilger ganz schön gedrängt haben, denn sie war schon damals, wie immer noch auch heute, von zwei Jakobswegen her erreichbar. Zum einen als kleiner Umweg vom Navarrischen Weg, so wie wir es soeben praktiziert haben, als auch vom Aragonesischen Weg, die sich beide nur drei Kilometer entfernt, bei Obanos zum Camino Francés, zum Hauptweg, vereinen.

Als ich Anni bei Sira ablöse, findet sie bessere Bedingungen vor. Mit oder unmittelbar nach mir haben alle anderen Pilger Eunate ebenfalls verlassen und streben Obanos zu. Anni genießt einen schönen Moment der Ruhe.

Wir verlassen Eunate zu einer Zeit, zu der wir sonst meistens schon am Ziel sind und wir haben noch über sechs Kilometer vor uns. Wir legen einen Zahn zu, durchqueren bald Obanos und bekommen dort von Veronika, die sich bereits seit einiger Zeit auf dem Campingplatz in Puente la Reina, wo unser gebuchter Übernachtungsbungalow steht, eine Sms mit der Bitte, noch für das Abendessen einzukaufen. Wir sind begeistert, tun es bei Ankunft in Puente la Reina aber trotzdem. Wer will schon hungern?! Allerdings gibt es nichts Schöneres, als nach etwa 30 Kilometern Wanderung mit Wheely und Sira vor einer Ladentür zu stehen und sich für 15 bis 30 Minuten die brennenden Füße in den Bauch zu stehen.

Über die alte Pilgerstraße, die die Altstadt von Puente la Reina einmal komplett durchquert, erreichen wir dann doch endlich die berühmte Pilgerbrücke, überqueren sie noch andächtig und quälen uns dann noch mit einer letzten Kraftanstrengung auf der anderen Seite einen Berg zum Campingplatz hoch, wo wir von Veronika bereits erwartet werden.

Der Campingplatz gehört zu einer relativ neuen Pilgerherberge, die offensichtlich auf Massenbetrieb ausgerichtet ist. Der Hospitalero entwickelt sich zu einem speziellen Freund von Veronika, denn er zeigt sich so gar nicht kooperativ. Anni darf nicht in der Nähe unseres Bungalows, welcher sich in einem eingezäunten Bereich befindet, das Zelt aufschlagen (schließlich könnten wir ja unerlaubterweise den Hund mit hineinnehmen), die Einrichtung des Bungalows stellt sich als nicht gerade sauber heraus und die Kochplatte ist defekt. Eine Ersatzplatte rückt er nicht heraus. Veronika will uns aber bekochen und bleibt hartnäckig. Mittlerweile habe ich mich im Bungalow schon eingerichtet, bekomme dann aber von Veronika die Mitteilung, dass wir in den benachbarten Bungalow umziehen müssen, dort funktioniert die Kochplatte. Also darf ich wieder alles zusammenpacken und rüberwechseln. Dann muss ich zur Wiese vor der Pilgerherberge, ca. 100 Meter entfernt. Dort braucht Anni Hilfe beim Zeltaufbau. Und dafür bin ich genau der Richtige! Jeder weiß, wieviel Spaß es macht, ein neues Zelt praktisch zum ersten Mal, ohne Aufbauanleitung und unter den Augen von mehreren neugierigen Pilgern , aufzubauen. Nur einsetzender Regen fehlt jetzt noch!

Irgendwann steht es dann doch und Anni richtet sich in freudiger Erwartung auf die kommende Nacht ein. Kurz darauf ist Veronika auch mit Kochen fertig und Annika bekommt ihre Portion im Zelt serviert, denn essen darf sie auch nicht bei uns, es sei denn, sie lässt Sira allein am oder im Zelt zurück. Für Anni natürlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Annis erste Nacht alleine im Zelt ist für ihren Vater gar nicht so leicht.

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Kommentare: 3
  • #1

    Mama Ingrid (Montag, 20 Mai 2013 11:41)

    Mh, arme Anni, arme Sira

  • #2

    Barbara Große (Montag, 20 Mai 2013 22:52)

    Jaja!
    Aber den Eltern immer sagen dass man die Kinder machen lassen muss!!!
    Und was muss ich lesen?Ihr habt Veronika schon wieder kaputt gemacht?!
    Bitte gut und aufbauend behandeln(falls sie nicht schon wieder auf dem Rückweg ist)Wenn ich auch nicht mehr Kollegin bin,so möchte ich sie doch nicht missen oder leiden sehen.
    An dieser Stelle also auch an sie liebe Grüsse und nicht zu Schmerzende Füße!
    Und euch anderen Beiden(bekannter und unbekannter Weise)alles gute für die letzten Kilometer.

    Barbara

  • #3

    Dani (Dienstag, 21 Mai 2013 07:12)

    Och wie süß! Anni ist doch schon groß! Außerdem glaube ich, dass das auch was hat mit der müffelnden Sira im Zelt.