Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Die Seele des Pilgerns

Von Los Arcos nach Viana, 20 km

"Sch*e, so ein Mist! Dreck, verdammter! Kacke da!"

Es ist abends, fast elf Uhr. Papa kommt in mein Zimmer, nachdem er drei Stunden lang an seinem Blogartikel geschrieben hat. "Ich war fast fertig und ich glaub, jetzt hab ich alles gelöscht! Hol das wieder! Mach, dass das wieder da ist." Vor einiger Zeit standen wir schonmal vor der selben Situation und ich konnte das Dokument retten. Dieses Mal klappt das nicht. Die Arbeit der letzten drei Stunden war umsonst. Und ihr bekommt nichts zu lesen. Papa schlurft enttäuscht in sein Zimmer. Seine Nacht ist quasi gelaufen.

  Siras Nacht genauso. Vor unserem Zimmerfenster ist Katzenkonzert. Es klingt nach Läufigkeit, Testosteron und Schlägerei. Zwischendrin schreit ein junges Kätzchen. Noch am Nachmittag habe ich seine Mutter dabei beobachtet, wie sie das Junge am Genick gepackt hat und oben auf einem 5 cm breiten Gatter entlang balanciert hat. Dann ist sie über den Zaun gehüpft, mit Jungtier im Maul, und hat sich zu der Ansammlung von Katzen gesellt, die dort rumstreunerten. Auf den ersten Blick hab ich sieben gezählt. Ist bestimmt ne Katzen-Hippie-Kommune. Man kann sich vorstellen, dass da auch oder vor allem nachts keine Ruhe einkehrt. Außerdem stinkt es sowohl in den Pflanzkübeln im Hotel, als auch im Kellerzugang des Hotels  als auch in jeder Straße und jedem Pflanzkübel der Stadt Los Arcos nach Katzenpipi. Na, dann kann sich hier ja über Hunde keiner beschweren.

Zu dem Katzenjammer vorm Fenster gesellt sich immer mal wieder Hundegebell. Der Arme verbringt seine Nacht wohl im Zimmer und beschwert sich, wenn eine der provokativen Samtpfoten vor seinem Reich den Catwalk macht.

Sira meistert das Vierbeinerkonzert mal wieder grandios. Sie bellt nicht ein einziges Mal. Trotzdem steht sie immer wieder entrüstet auf und marschiert zum Fenster, wenn die Gesänge losgehen. Zum Glück habe ich in weiser Voraussicht die Rollläden (ja, schon wieder Rollläden! Die Zeit der hässlichen französischen Blechklappläden ist wohl endgültig vorbei...) herunter gelassen. Wenn sie die Katzen auch noch sehen könnte, wäre das Gebell groß. So ist sie wie immer lieb und ruhig, schläft aber in der Nacht nicht besonders viel. Vielleicht hätte ich ihr welche von meinen Oropax anbieten sollen...

Am Morgen ist Papa immer noch nah am Rande des Nervenzusammenbruchs. Mein Gott, es ist doch nur ein Schriftstück! Es waren doch nur drei Stunden! Klar ist das ärgerlich, aber muss uns das den Rest des Tages versauen?!?

Die nächste Katastrophe lässt nicht lange auf sich warten: Der Schirm ist weg! Papas heiß geliebter, riesiger und weit gewanderter Regenschirm ist weg!!! Er hat ihn gestern mit zum Kuhrennen genommen und dort bei einem Café abgestellt und vergessen. Veronika erkennt den Super-GAU sofort und eilt in die Stadt, um zu sehen, ob das gute Stück noch irgendwo bei dem Café ist. Erfolgreich kehrt sie mit Papas Baby zurück. Sie ist die Heldin des Tages. Trotzdem ist Papa immer noch knatschig. Ich werde energisch und sage ihm, er solle sich jetzt über seinen Schirm freuen und den blöden Blogartikel vergessen. "Weine nicht um Dinge, die selbst nicht weinen können!", sagt Mama immer. "Und wenn du jetzt nicht lieb bist, lassen wir dich hier und holen dich auf dem Rückweg wieder ab!" So lange will er dann wohl auch wieder nicht warten. Von jetzt an bessert sich seine Laune.

Zeitgleich mit uns verlässt Claudia das Hotel. Sie hat heute noch ein paar Kilometer mehr vor sich als wir, deswegen verabschieden wir uns bald und gehen unserer Wege. Veronika trennt sich auch bald von uns. Ihr Knöchel bereitet wieder starke Probleme. Sie hat sich für einen Ruhetag entschieden und fährt mit dem Bus nach Viana zu unserer Unterkunft.

  Als wir durch den Ortskern laufen, sieht man noch deutlich die Spuren des gestrigen Spektakels. Vereinzelte Kuhfladenspritzer auf den Straßen. Absperrgatter, die gerade abgebaut werden. Barbesitzer, die die letzten Spuren der großen Aftershow-Party zusammenkehren Und nicht zu vergessen die Alkoholleichen, die mit roten Augen kurz einnicken oder noch wild grölend mit reichlich Restalkohol über den Kirchplatz tanzen und sich von Pilgern fotografieren lassen in ihrer rotweißen Torrerokleidung von gestern Abend.

Bald haben wir den Ortsausgang erreicht und laufen zwischen hüfthohen Haferfeldern Richtung Sansol, das wir bereits in sieben Kilometern vor uns sehen können. Hach ja, es geht doch nichts über Fernsicht! Wenn Mann jetzt schon sieht, wo wir in eineinhalb Stunden sein werden.

Das Wetter ist ausbaufähig. Die Sonne scheint und ein paar Wölkchen ziehen vorüber. Aber der Wind hat es in sich. Gänsehaut überzieht immer wieder meinen Körper, trotz dicker Fleecejacke. Scheinbar geht es den Pilgermassen vor und hinter uns ähnlich. Der eine oder andere streift sich seine Kapuze über.

Nach Sansol geht es bergab und wieder bergauf und schon sind wir in Torres del Rio. Im Abstand von jeweils 50 m befinden sich hier gleich drei Bars, in denen die Pilger einkehren. Wir laufen auch an der dritten vorbei, aus deren Innenhof laute und sehr schöne Musik dringt. Der gut gelaunte, aber scheinbar schwer unterbeschäftigte Wirt winkt uns zu und schnalzt Sira zu. Er hätte uns gern als seine Gäste, glaube ich. Weil wir so nett aussehen? Oder weil Sira so süß ist? Oder weil seine als die letzte der drei Bars viel weniger Zulauf hat als die anderen und er zwingend zahlende Kundschaft braucht? Der Grund ist egal, wir wollen heute kein Geld für's Einkehren ausgeben! Wir winken freundlich zurück und lassen uns auf einer naheliegenden Bank nieder, bei Doppelkeks und Erdnüssen.

Pilger aus aller Welt ziehen an uns vorbei. Amerikaner, Australier, Franzosen, Spanier, Italiener, Deutsche, zu Fuß oder auf dem Rad, mit leichtem Tagesrucksack oder schweren Gepäck, mit ultraleichten Hightech-Walkingsticks oder traditionellem Pilgerstab, leidend oder glücklich, manchmal auch beides gleichzeitig. Einige sieht man zum ersten Mal, andere kennt man inzwischen vom Sehen, mit wieder anderen hat man schon, mal mehr, mal weniger gesprochen, andere quatschen uns jetzt zum ersten Mal an. Die Gespräche verlaufen meist ähnlich: Von wo, nach wo, insgesamt oder nur die Tagesetappe, wo lebt man, wie fährt der Wheely, wie klappt das mit dem Hund, wer hat wo Schmerzen, gute Ratschläge, Buen Camino und bis bald. Oder auch nicht. Jeder hat auch für Sira ein Tätscheln, ein Zungenschnalzen oder zumindest ein Lächeln übrig.

Die meisten, die uns unsere Geschichte aus der Nase ziehen, bewundern uns und sind begeistert. Das ist ehrlich gesagt schon ein gutes Gefühl...

Als sich unsere Pause dem Ende nähert, vermisse ich mal wieder ganz entschieden etwas, was ich in Frankreich lieben gelernt habe: Public Toilets! In Frankreich konnte man sich darauf verlassen, dass man nur zur nächsten Kirche gehen muss. Irgendwo dort in der Nähe befindet sich mit Sicherheit eine - meist überraschend saubere - öffentliche Toilette und ein Trinkwasserhahn. Außerdem in der Regel überdachte Sitzgelegenheiten. Hier ist das anders. Es gibt kaum noch Plätze, an denen man sich selbst behelfen kann. Es gibt keine Honor Boxen mehr. Hier wird man in die Bar gelotst, in der man meist mehr Geld lässt als man eigentlich wollte. Die Urigkeit und eingeschworene Gemeinschaft der Pilger ist hier irgendwie nicht mehr so intensiv, da die Frequenz der Begegnungen einfach viel höher ist. Hier liegt in den Herbergen und kleinen Kirchen kein Gästebuch mehr aus, in dem man sich persönlich bedankt oder Landsmänner grüßt. Hier ist alles etwas anders. Aber deshalb keinesfalls weniger schön. Ebenso wie die Frequenz der Begegnungen erhöht ist, so ist auch die Energie hier viel stärker. Zweimal war ich auf dem Camino Frances schon so ergriffen, dass mir fast die Tränen gekommen wären. Das ist mir auf den 2000 km davor nicht passiert. Und so hat eben alles sein Für und Wider.

Nach Torres el Rio laufen wir weiter durch die weit geschwungenen Felder, umrandet von Bergen. Die Sonne kämpft inzwischen erfolgreicher gegen den Wind. Ich entledigen mich auf patentierwürdige Art und Weise meiner Jacke, ohne den Rucksack auszuziehen. Ich mustere meine Kleidung. Toll! Inzwischen ist nicht nur das ursprünglich strahlende Gelb meiner Fleecejacke zu einem schmutzigen Ocker geworden. Nein, auch mein zartrosafarbenes Top ist inzwischen schmuddelgrau verfärbt. Wunderschön!

Unsere nächste Pause versüßt uns Veronika mit einer SMS: "Paradies gefunden, riesig, Sira kann sich austoben, alles für uns allein, jeder kann sich ein Zimmer aussuchen, sogar Sira."

  Damit laufen sich die letzten Kilometer bis Viana wie von selbst. Und wir staunen nicht schlecht. Veronika hat nicht zuviel versprochen. Die Appartementwohnung ist riesig. Es gibt vier schöne Schlafzimmer mit jeweils zwei Betten, zwei Bäder (eins sogar mit Wanne und Badeschaum!) und eine Küche, die mit allem ausgestattet ist, was man sich wünschen kann, inklusive Waschmaschine und Frühstück. Der Hausherr hat Veronika nur schnell hereingelassen und alles gezeigt, dann hat er sich zurückgezogen. Er hat uns diese ganze Superbude einfach vertrauensvoll überlassen. Im Schrank stehen Kaffee, Tee und Kakao sowie Nudeln und Kekse zur Verfügung. Den ganzen Spaß gibt es für zwanzig Euro pro Person, egal, ob man allein hier residiert oder zu acht. So langsam kommt uns das Spanisch vor: Wo ist der Haken?

Als wir die Bedienungsanleitung der Waschmaschine in einer Schublade suchen, finden wir darauf eine Antwort: Es gibt keinen! Zwischen diversen Gebrauchsanweisungen liegt eine Compostela. Ohne es zu ahnen haben wir eine Unterkunft bei einem ehemaligen Pilger gebucht!

Ich lege die bereitgestellte Bruce Springsteen-CD in den vorhandenen Player und lasse mir Badewasser ein. Sira scharrt an der Tür und scheucht mich nach einer Stunde aus der Wanne, als meine Haut schon schrumpelt. Ich steige in meine duftende, frisch gewaschene Wäsche und schmeiße Siras Hundespielzeug durch den Flur.

Und da erzähle ich vorher noch, dass die Seele des Pilgerns hier nicht so sehr vorhanden ist wie in Frankreich!

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Kommentare: 2
  • #1

    Mama Ingrid (Mittwoch, 22 Mai 2013 22:37)

    Mann, das ist ja super! 20,-€ für 5*! Den ungewohnten Luxus gönne ich euch mal, das Bad hast du bestimmt genossen. Hättest Sira ja mitnehmen können ;-)
    Sira mit Oropax, auch eine coole Vorstellung, hihi. Ansonsten scheint sie sich ja an das Pilgerdasein mit allem Drum und Dran gewöhnt zu haben, inklusive Tätscheln.
    Reinhard, das tut mir echt leid, dass alles für die Katz war, aber Anni hat Recht :"Shit happens"! Ich glaub, sie hat das irgendwie anders formuliert.) Wir hatten allerdings schon auf neue Einträge gewartet, immer nachgeschaut und uns gewundert. Dafür wart ihr ja heute wieder richtig fleißig, was das Schreiben angeht. Freu, freu :-)
    Hihi, Veronika pilgert diesmal wohl eher mental.
    LG und Küssi für Sira

  • #2

    Dani (Donnerstag, 23 Mai 2013 12:51)

    Geil!!! Verwahrlosung meets Luxus!!! Aber ich bin wirklich sehr enttäuscht, dass Papa den Bericht nicht nachgereicht hat