In der Nacht schlafe ich beruhigter als in Santa Irene. Anni darf zwar wieder nicht mit Sira in die Herberge, aber darauf waren wir ja vorbereitet. Nur fungiert diesmal als Schlafsaalersatz keine
enge, kalte und feuchte Pferdebox, sondern ein großer, wohltemperierter, nur etwas staubiger Lagerraum. Anni liegt auf einer Reservematratze der Herberge und Sira hat bei der Größe des Raumes
sogar Platz zum Toben. Alles ist gut, ich mache mir keine Sorgen.
Beim Frühstück bleibt Sira sogar lieb alleine in dem Lagerraum, damit Frauchen etwas gemütlicher im Aufenthaltsraum zusammen mit ihrem Vater essen kann. Good girl!
Um 8 Uhr sind wir wieder am Start. Das Wetter ist nicht gerade ein Fest. Dicke Wolken hängen über Negreira und feiner Sprühregen sorgt dafür, dass es auf den Straßen nicht staubt. Als wir den Ort
durchqueren, stöbern wir einige andere Pilger aus unserer und aus anderen Herbergen auf, die gerade in einer Bar ihr Frühstück beendet haben und nun auch bereit sind zum Aufbruch. Gemeinsam mit
ihnen ziehen wir durch das mittelalterliche Stadttor und verlassen Negreira.
Recht bald finden wir uns auf einem schönen Waldweg wieder. Erneut sind es mächtige Eichen, Kiefern und Eukalyptusbäume, die den Wald, erst recht bei den dunklen Wolken, mystisch und
geheimnisvoll wirken lassen. Regen rauscht auf die Blätter, aber die aus Leibeskräften singenden Vögel können selbst dieses Geräusch spielend übertönen. Mir gefällt diese Atmosphäre, nur der
Schlamm, der sich mal wieder dank des Regens der letzten Tage auf den engen Pfaden und Hohlwegen gebildet hat, stört. Er erinnert mich an die Waldwege im Norden Frankreichs, wo wir manchmal im
Modder versanken.
Vor uns tauchen auf einmal drei Mädchen in einem Hohlweg auf und kommen uns entgegen. Mit ihren Ponchos sehen sie aus wie kleine Waldwichtel. Sie sind in Begleitung eines niedlichen Hundes, der
aufgeregt kläffend Sira entgegenspringt. Nach einem energischen Rückkläff, mit dem sie sich den nötigen Respekt verschaffen will, ist Sira schnell einigen Spieleinheiten nicht abgeneigt. Die
Mädels nutzen ungefragt die Gelegenheit, uns über mögliche Übernachtungsmöglichkeiten mit Hund auf dem Weg nach Finisterre zu informieren. Natürlich sind wir ihnen für diese Auskünfte dankbar und
machen uns Notizen. Dann wird der aufkeimenden Freundschaft zwischen Sira und dem kleinen Rüden jäh ein Ende gesetzt und jeder geht in seine Richtung weiter.
Die Hospitalera unserer Albergue in Negreira hatte uns für den Nachmittag besseres Wetter versprochen und sie soll recht behalten. Bereits mittags hört der Regen auf, die Wolken steigen die
Berghänge hoch und bald schon tun sich für die Sonne erste Lücken auf. Damit steigen die Temperaturen, Waschküchenverhältnisse entwickeln sich. Ich frage Anni, ob sie überhaupt weiß, was man
unter einer "Waschküche" früher verstanden hat. Sie weiß es nicht, gehört sie doch einer anderen Generation an. Ich erkläre es ihr und Erinnerungen aus meiner Kindheit steigen in mir auf.
Waschküchenverhältnisse sind das eine, wenn dann aber noch satte Aufstiege auf rumpeligen Pfaden dazukommen, wird es anstrengend. Nur ganz selten habe ich auf dem Camino Francés so geschwitzt wie
an den letzten beiden Tagen. Dennoch gefällt mir der Camino Finisterre bisher. Er ist ruhiger, unaufgeregter, bedächtiger. Oder empfinde ich das nur so , weil die gewisse Hektik raus ist, viel
weniger Pilger unterwegs und die Bars nur noch rar gesät sind? Oder ist die Spannung raus, das große Ziel bald zu erreichen, was einen selbst und das ganze Umfeld ruhiger sein lässt?
Unsere Rast an einer Bar fällt heute aus, wir kommen einfach an keiner vorbei. Als Ersatz zum Ausruhen dient uns, wie auf unserem langen Weg schon so einige Male, ein kleines Buswartehäuschen am
Rand einer kleinen Landstraße. Nix Bocadillo, nix Tortilla, nix Café americano grande. Unsere Rucksackvorräte tendieren gegen Null. Ein paar fluffige Muffins, etwas Schokolade. Unsere Devise: Was
man nicht an Vorräten im Rucksack hat, muss man auch nicht schleppen. Und ein bisschen Hungern hat noch keinem geschadet.
Nach einem weiteren letzten Aufstieg folgt netterweise auch ein kurzer Abstieg. Nach nur 14 Kilometern sind wir schon gegen 13 Uhr in Vilarios, unserem Tagesziel. In unserem eigentlich
angedachten Ziel Santa Mariña ist unsere Schlafsituation mit Hund ungewiss und unser Bedarf an unliebsamen Überraschungen ist seit gestern gedeckt. Hier, in Vilaserio, sind wir recht sicher, in
der Albergue municipal Unterschlupf zu finden. Sie soll laut Aussage unseres Wanderführers und der Hospitalera aus Negreira etwas in die Jahre und heruntergekommen sein. "Matratzen mit
Gebrauchsspuren" und Schimmel an den Wänden - da kann man doch gegen einen Hund nichts haben! Wichtiger Pluspunkt: Übernachtungskosten auf Spendenbasis! Da darf es ruhig auch mal weniger
komfortabel zugehen.
Tatsächlich riecht es etwas muffig in den Räumen der Herberge, die ehemals eine einklassige Schule war. Hoffentlich ist den Kindern damals der Schimmel erspart geblieben. Sie hatten keine andere
Wahl. Anscheinend versucht man hier seit geraumer Zeit, die Verhältnisse zu verbessern. Türen und Fenster stehen zum Lüften sperrangelweit auf, neue Fenster sind mal eingesetzt und die Böden neu
gefliest worden. Die Wände scheinen neu gestrichen zu sein, auch wenn die Farbe den Schimmel nicht immer übertünchen konnte. Als Betten dienen im Erdgeschoss, dort, wo früher Unterricht
abgehalten wurde, Bodenmatten, die aussehen wie Turnmatten aus einer Sporthalle. Ein paar Decken liegen auf einem Tisch. Annis Neugierde treibt sie ins Obergeschoss, anscheinend die frühere
Lehrerwohnung. Hier gibt es sogar kleine Zimmer mit alten Einzelbetten, allerdings ist hier oben die Luft noch etwas strenger als unten. Trotzdem nehmen wir die Herausforderung an und Anni und
ich beziehen unsere Zimmer, richten uns häuslich ein und stellen uns vor, in einer schönen Appartment-Wohnung zu sein. Irgendwann fühlen wir uns sogar richtig wohl, zumindest erleichtert, dass es
diesmal doch mit dem Hund geklappt hat. Da naht - wir sehen es aus dem Fenster - aus dem gegenüberliegenden Haus die Hospitalera. Schnappatmung! Komplimentiert sie uns jetzt wieder raus? Perro
no? Kurz halte ich die Luft an, als sie mit Anni spricht. Dann höre ich aus ihren Worten raus, dass sie Sira akzeptiert. Danke, Jakobus!
Widererwartend bleiben wir nicht die einzigen Gäste. Keiner von ihnen hat ein Problem mit Sira. Die Sonne scheint warm, wir Pilger sitzen draußen vor dem alten Schulgebäude und genießen den
schönen Abend. Alles ist gut.
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Mama Ingrid (Sonntag, 23 Juni 2013 02:23)
Jaja, die alte Waschküche! Ich kann mich auch noch gut daran erinnern, nach der 'großen Wäsche' mit meiner Schwester im Keller in dem dicken steinernen Wäschezuber "gebadet" zu haben!
Ihr hungert schon wieder? Meine Güte, ich hoffe, wir erkennen euch noch wieder!
Sira darf bleiben, okay, alles ist gut!
Dani (Dienstag, 25 Juni 2013 17:16)
Ein wenig Leiden auf den letzten Metern! So muss das sein