Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Ursprünglichkeit

Von Vilaserio nach Olveiroa, 22 km

Als ich morgens mit Sira rausgehe, ziehe ich den Reißverschluss meiner Fleecejacke noch etwas höher und schüttle mich. Es ist ungemütlich! Dicker Nebel hängt über den Feldern, es ist kalt und leichter Sprühregen fällt. Ich freue mich gerade, dass ich gleich wieder rein kann ins verhältnismäßig Trockene und Warme, als ich auf der Wiese einen jungen Mann schlafen sehe. Es ist der Holländer, der gestern Abend noch mit zwei anderen Pilgern hier ankam. Eine dünne Isomatte, ein Schlafsack, sonst nichts. Er wird wach, reibt sich die Augen und grüßt mich. Jetzt erwarte ich eine Flucht ins Haus. Stattdessen packt er sein Buch aus und liest gemütlich in seinem Schlafsack. DAS nenne ich Naturverbundenheit! Ich schäme mich ein bisschen für unser Weicheiertum. Schönwetterzelter! Pah! Aber das Außergewöhnliche dabei ist ja, dass der junge Mann das Ganze tatsächlich genießt! Nun denn, jedem Tierchen sein Pläsierchen, jedem das Seine.

Ohne Frühstück ziehen wir los. Das ist eine Premiere. Wir können es noch so eilig haben, wir können schwer vom Wochenende überrascht werden, aber dass wir so gar nichts frühstücken, ist neu. Die Möglichkeiten sind uns irgendwie ausgegangen. Wie Papa schon gesagt hat: Hier herrscht nicht mehr die gewohnte Camino-Infrastruktur. Es passiert schon mal, dass man auf knappen 50 km nicht an Lebensmittelgeschäften vorbeikommt. Und eben auch mal acht Kilometer lang, dass man nicht an Bars vorbeikommt, in denen man frühstücken kann. So wie heute. Papa stellt die Entfernung mit Entsetzen fest und fühlt sich allein deshalb schon entsetzlich hungrig. Da kann man nur schnell laufen, umso früher erreicht man sein Frühstück.

Bei tropischen Wetterverhältnissen eilen wir unserem Frühstück entgegen. Der sprühende Nebel kitzelt auf der Haut, ist aber nie stark genug, als dass sich heute das Regencape lohnen würde. Es ist so warm, dass ich unter meinem Fleece nicht viel trockener bin als obendrauf.

Einen Großteil unseres Tages halten wir uns heute auf wenig bis gar nicht befahrenem Asphalt auf. Wir laufen durch das menschenleere Cornado. Es ist Samstagmorgen. Noch nicht einmal die Katzen scheinen wach zu sein.

Wer allerdings schon wach ist, sind die zwei Kaninchen, die kurz hinter dem Dorf gemütlich auf dem Feldweg sitzen. Sie lassen sich von Sira fast genausowenig beeindrucken wie die Dorfkatzen, die uns seit Wochen das Leben schwer machen. Aber inzwischen sind die Schwielen an meinen Händen so dick, dass es schon fast gar nicht mehr wehtut, gegen den Hund anzukämpfen.

Die putzigen Häschen, die langsam ins Gebüsch schlendern, zeigen sich von uns ebenso wenig beeindruckt, wie von den Schüssen, die Jäger heute Morgen regelmäßig und nicht allzu weit entfernt abfeuern. Uns beeindruckt das schon mehr. Wir fragen uns, wann uns wohl jemand den Weg versperrt und uns wegen Jagdtreiben in den Wäldern zurückschickt. Wir bleiben verschont und dürfen unserem Weg folgen.

Vor As Maroñas wird die Wegstrecke tatsächlich irgendwie ungemütlich. Dicke Steine bestimmen den Untergrund, sind sogar fest darin verankert. Man muss seine Füße unnatürlich setzen und kann trotzdem nicht an ihnen vorbei treten. Die komische Fußhaltung strengt enorm an. Papas Kommentar: "Wenn der ganze Weg so gewesen wäre, wären wir heute noch in Burgos." Mein Gott, Burgos! Das ist ja schon Ewigkeiten her! Und ist trotzdem noch eine der Stationen, die bei Weitem nicht so lange zurückliegen wie andere. Wir sind wirklich schon lange unterwegs...

Als wir ein Feld passieren, bemerken wir einen großen Schwarm Vögel, der darauf herumstakst. Es sind Möwen. Das Meer kann wirklich nicht mehr weit sein.

Wie weit genau lässt sich aber nur sagen, wenn wir unseren Wanderführer zur Hand nehmen. Das war mal anders. Eigentlich stehen überall am Weg steinerne Säulen mit einer Jakobsmuschel-Fliese und einer, auf den Meter genauen Entfernungsangabe. Nur noch eine Handvoll dieser unzähligen Säulen ist komplett. Bei fast allen haben Souvenirjäger die Entfernungsangabe und oft auch die Muschelfliese herausgepult. Wer macht sowas?!? Da wir das seit über einhundert Kilometern beobachten, können es ja eigentlich nur Pilger sein. Ist es das, worum es hier geht? Souvenirs abgreifen, egal um welchen Preis? Hier hat man den Gedanken des Pilgerns wohl grundlegend missverstanden. Mich ärgert es.

In der Bar von Santa Mariña ist es dann endlich soweit: Frühstück! Wir setzen uns wie immer draußen vor die Bar. Die Hospitalera kommt raus, bleibt abrupt stehen, als ihr Blick auf Sira fällt und verliert jede Fassung. Man sieht ihr Todesangst an. Sie lächelt dankbar, als ich Sira auf die andere Seite des Tisches setze und am Halsband festhalte.

Als Papa drinnen bestellt, registriert er eine junge Pilgerin, die, auf ihren Arm gestützt, über ihrem Frühstück schläft. Krank? Noch gar nicht losgelaufen? Oder schon 30 km unterwegs? Als sie kurze Zeit später mit Rucksack aus der Bar kommt, erfahren wir es: Sie ist die Nacht über durchgelaufen. Nicht nur die Nacht, sondern auch den Tag davor. Heute will sie noch siebzehn Kilometer weit, also genauso weit wie wir. Hm. Nachts laufen ist ja schön und gut. Vor allem in einer besonderen Nacht wie der letzten, denn es war Sommersonnenwende. Aber dann kann man doch tagsüber schlafen. Man muss es ja nicht übertreiben. Sie sieht nicht glücklich aus. Trotzdem zieht sie weiter.

Während wir uns unsere Tostadas con Mantequilla, Marmelada y Té (getoastetes Baguette mit Butter, Marmelade und Tee) zu Gemüte führen, läuten plötzlich die Glocken der alten kleinen Kirche nebenan. Es ist 10.12 Uhr. Im vereinzelten Geläut lässt sich keine Regelmäßigkeit erkennen. Allerdings sehe ich, wie sich zwei dicke Drähte bewegen. "Papa, da zieht einer an der Strippe! Die haben hier 'nen Glöckner!" Papa geht um die Ecke und sieht tatsächlich den Mann, der hochkonzentriert und scheinbar doch in einer bestimmten Reihenfolge die Drähte der zwei Glocken zieht. Das hat sowas Ursprüngliches, dass es schon fast wieder romantisch ist.

Bald darauf laufen wir weiter. Das Wetter will sich nicht so recht bessern. Die hartnäckigen Wolken und der Nebel bleiben, der Nieselregen kommt und geht.

Trotzdem fällt die Etappe nicht besonders schwer. Die Steigungen sind angenehm, die Bodenbeschaffenheit auch, außerdem könnte es auch wesentlich schlimmer regnen.

Als wir eine Anhöhe am Monte Aro hinuntergehen, bleibt Papa stehen: "Anni, guck mal! Das wird doch nicht...?" Papa glaubt kurzfristig, das erste Stück vom Meer gesehen zu haben. In einiger Entfernung sieht man tatsächlich ein großes Gewässer. Nach dem ersten Überraschungsmoment ist aber klar: Falscher Alarm! Wir sehen lediglich einen Arm des Xallas-Stausees Encoro da Farvenza.

Wir laufen weiter durch Maisfelder, immer über kleine und kaum befahrene Landstraßen. Ein Trecker kommt auf uns zu und biegt in die Abzweigung ein, die wir auch nehmen müssen. Neben dem Trecker läuft begeistert ein kleiner wuscheliger Hund her, der so sehr damit beschäftigt ist, seine Beine nicht im Lauf zu verknoten, dass er Sira keines Blickes würdigt. Als wir die Hinteransicht des Treckers zu sehen bekommen, entdecken wir auf der Ladefläche eine jüngere und eine ältere Bäuerin mit Kopftuch. Auch hier wieder romantische Ursprünglichkeit und Klischeebild von spanischen Dörfern. Schön, wenn man es "echt" präsentiert kriegt.

Bald lässt die Sonne sich ab und an mal blicken und die Landschaft verändert sich. Felsen ragen heraus, Heidekraut und Stechginster bestimmen das Bild, ebenso wie die Fernblicke, unter anderem auf unser Etappenziel Olveiroa im Tal.

In Ponte Olveira laufen wir auf den Friedhof zu. Zig Autos stehen davor. Ist heute eine Beerdigung? Wenn ja, dann nehmen aber wirklich viele Leute Anteil... Die Menschenmassen, die kurz darauf aus der Kirche strömen, sind nicht beerdigungsgerecht gekleidet. Und sie sind zu gut gelaunt. Man grüßt uns fröhlich auf deutsch. Es war wohl einfach nur Gottesdienst. Mit so vielen Besuchern! Wahnsinn! Das schafft man bei uns höchstens mal an Weihnachten!

Bald erreichen wir Olveiroa und in der Nähe der kleinen Kirche unsere Herberge. Wir hören immer mal wieder eine Stimme aus einem Lautsprecher. Bald stellen wir fest: Es ist der Pastor. Auch hier ist gerade Gottesdienst und wir hören die gesamte Gemeinde durch den Lautsprecher ein Lied singen. Bald darauf strömen auch hier Heerscharen aus der Kirche und steuern auf das Restaurant zu, das an unsere Herberge angegliedert ist. Gut, dass wir schon eingecheckt haben!

Abends haben wir das Fenster geöffnet und die Nachtwanderin von heute Morgen sitzt vor der Bar, als ein Deutscher sie anquatscht. "Du bist also die Verrückte, die die Nacht durchgelaufen ist..." - "Wer hat dir das denn schon erzählt?" - "Auf dem Camino geht nichts verloren, weder Menschen, noch. Informationen!" Recht hat er!

Sie erzählt ihm das gleiche, was sie uns schon erzählt hat. Fast genau 24 Stunden ist sie gelaufen, 60 km, geschlafen hat sie 15 Minuten in einer Bushaltestelle und eine halbe Stunde über ihrem Frühstück (während sie kaute, übrigens).

Naja, jeder macht sich eben seinen eigenen Camino...

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Kommentare: 1
  • #1

    Mama Ingrid (Sonntag, 23 Juni 2013 02:42)

    Unter freiem Himmel geschlafen? Nur mit Schlafsack, ohne Zelt? Cool!
    24 Stunden durchmarschiert, 60 Kilometer? Noch cooler!
    Ich glaube, das sind Geschichten, die in keinem Buch erwähnt werden - außer in eurem!
    Und ihr hungert schon wieder, eieiei!
    Wir sind wieder zeitgleich - also: schlaft gut!