Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Freiheit!!!

Von Fisterra nach Lires, 15 km

Die zweite Nacht in Folge schlafe ich wie ein Baby. Liegt das daran, dass ich langsam die "Ziel erreicht!"-Tiefenentspannungsphase erreicht habe. Oder an dem Wissen, quasi in einem Haus am Ozean zu schlafen? Oder an den tollen Betten? Oder daran, dass mir klar ist, dass unsere heutige Etappe mit 15 km nur kurz ist und wir uns deshalb nicht hetzen müssen? So oder so, der Wecker treibt mich um kurz vor acht hoch. Ich schaue in strahlend blauen Himmel. Die Sonne färbt Dünen und Strand bereits golden. Da steh ich gern auf!

Papa geht es etwas anders als mir. Sein Magen hat heute  Nacht wieder krampfhaft rebelliert und sein Erholungsgrad ist nicht besonders hoch. Und sein Bauch quält fleißig weiter. Vielleicht will sein Körper ihm sagen, dass es reicht und es an der Zeit ist für einen "echten" Ruhetag, ganz ohne wandern. Bald hast du es erstmal geschafft, du armer, geschundener Körper. Nur noch zweimal...

Als ich mit Sira unsere morgendliche Runde drehe, zeigt mir auch ihr geschundener Körper, dass es reicht. Sie plagt seit gestern morgendlicher Durchfall. Es wird Zeit für gleichbleibendes, regelmäßiges Futter und Erholung. Bald...

Jan kommt mir entgegen. Ich erwarte Compis, den Haushund an seiner Seite. Fehlanzeige! "Ich hab meinen Hund verloren." Für ihn wohl keine Besonderheit. "Der macht, was er will!" Compis ist eben genau wie unsere Sira ein Straßenkind. Sieht er etwas Spannendes, rennt er hin und interessiert sich nicht mehr für seine Menschen. Er kommt eben auch alleine klar, zumindest eine Weile. "Wenn der Hunger hat, kommt er heim." Nachmittags ist er wieder zu Hause. Sira ist also nicht der einzige Freigeist...

Nach einem kleinen Kellogs-Frühstück (Ok, das von gestern war um Klassen besser, aber das Budget...) verlassen wir mit leichtem Gepäck die Herberge. Da Jan uns heute Nachmittag in Lires abholen wird und wir eine zweite Nacht in unserem kleinen Paradies verbringen werden, können mein Rucksack und Papas Wheely hier bleiben.

Wir verlassen unsere Herberge über den Weg, den Jan uns beschrieben hat.

 Bald erreichen wir durch schmale Gassen San Martiño. Hunde und Katzen sind schon jetzt reichhaltig vertreten und ich bin froh, dass Sira zumindest die Letzteren oft nicht registriert oder nicht übermäßig darauf anspringt.

Immer weiter steigen wir terrassenförmig auf und sehen das Meer stets zu unserer Rechten. Es muss schon toll sein, hier dauerhaft zu wohnen! Oder sieht man die Schönheit des Meeres dann vielleicht gar nicht mehr?

Hinter Escaselas kommt Papa mit einer vorbeiziehenden deutschen Pilgerin ins Gespräch. Sie ist die einzige, die wir heute sehen, die in die gleiche Richtung läuft wie wir. Im Moment unseres Zusammentreffens ist sie sich unsicher, ob sie richtig gelaufen ist. Die Muschelkacheln sind hier nämlich nur noch selten richtungsweisend angebracht. Da das Teilstück Fisterra-Muxia in beide Richtungen begangen werden kann, zeigen die Muscheln nach oben oder unten. Das kann den geübten Pilger verwirren.

Im nächsten Ort, Hermedesuxo, schließt sie sich uns kurzerhand an und läuft den Rest des Tages mit uns mit.

An der nächsten Kreuzung haben wir die Wahl. Entweder den offiziellen, etwas kürzeren Jakobsweg oder die Küstenvariante. Keine Frage: Küste!

Über kleine Landstraßen erreichen wir Vilar. Kurzzeitig haben wir eine tolle Aussicht auf den Strand vor Castromiñan im Westen und den Strand von Fisterra im Südosten.

Durch weitere kleine Dörfer und über Landstraßen durch Wälder und Buschwerk kommen wir dem Meer immer näher. Bald nehmen wir den ersten Abzweig nach links auf eine unscheinbare Schotterpiste. Ich befürchte fast, dass wir hier bloß irgendwann abrupt an einer steilen Felsküste enden und umkehren müssen, als sich plötzlich hinter dem Gebüsch die Dünen auftun. Ein paar Schritte später erreichen wir den riesigen, extrem sauberen und einsamen Strand "Praia o rostro". Eineinhalb Kilometer feinster Sand und klares blaues Wasser liegen vor uns und kein Mensch, mit dem wir das teilen müssen. Ich überlege nicht lange. Klack! - und Siras Leine ist ab. Als sie endlich registriert, dass sie frei ist, gibt's kein Halten mehr. Sie wetzt rauf und runter, ans Wasser, in die Dünen und immer wieder zu uns zurück. Zu uns zurück? Ich bin ganz überrascht. Sonst hat sie uns doch in den seltenen freien Momenten ihres Lebens ganz selten eines Blickes gewürdigt. Jetzt WILL sie uns als ihr Rudel bei sich haben und es ist ein Genuss, ihr zuzusehen, während sie den Sand aufwirbelt, Löcher gräbt und Algen durch die Luft schleudert.

Als sie nach einer guten Viertelstunde alles gegeben hat, jede Feder und jede Möwe soweit wie möglich gejagt hat, erklärt sie selbst ihre wilde Phase für beendet. Sie gesellt sich zu uns und trottet ganz nah neben uns und zwischen uns her. Sie geht so gut bei Fuß wie sie es mit Leine noch nie getan hat.

Mir soll es recht sein, denn just in dem Moment tauchen in einiger Entfernung weitere Menschen am Strand auf. So romantisch sich das Ganze gerade angehört hat in Bezug auf Sira: Ich weiß auch, dass sie eine solche Begeisterung über ihre gewonnene Freiheit gern mit jedem teilen möchte. Ich weiß aber nicht, ob jeder Fremde es so spitze fänd, wenn ein überdrehtes Kalb von Hund ungebremst auf ihn zuläuft, an ihm hochspringen, das Gesicht ableckt und vor Freude und im Spielmodus herzhaft in den Arm beißt.

Klar, die Halter der top erzogenen Hunde sagen jetzt, dass der Hund sowas doch nicht darf und man ihm das abgewöhnen muss. Dem stimme ich voll zu. Wenn ich ihn an der Leine habe, kann ich das kontrollieren und gegebenenfalls eingreifen. Hier, in dieser ungewohnten Situation kann ich das nicht, also keine Frage: Der Hund kommt wieder an die Leine. Ihm ist das wurscht, die erste Luft ist eh raus.

Bei einer angeschwemmten Holzpalette auf halber Strandhöhe machen wir Pause. Zu uns stößt Gustav, ein Radpilger, der in der gleichen Unterkunft schläft wie wir. Bei unserer langen gemeinsamen Pause reden wir Vier über dies und das, während Sira sich im Sand zusammenrollt und die jüngsten Ereignisse Revue passieren lässt. Der Wind peitscht immer wieder einzelne Sandkörner gegen unsere Haut und in unsere Ohren, Augen und Münder. Trotzdem ist es einfach zu schön, hier zu sein. Die Kekse, die wir essen, knirschen so langsam zwischen den Zähnen und Sira sucht nach einem windgeschützten Plätzchen hinter Papa, um nicht völlig paniert zu werden.

Als wir wieder aufbrechen, sind wir wieder völlig allein am Strand. Also kriegt Sira noch einmal die Möglichkeit. Leine los und ordentlich herumrennen! Sie gibt noch einmal alles und lässt sich dann, völlig ausgepowert, artig ranpfeifen, als ich weitere Menschen entdecke und wir den Strand sowieso verlassen.

Hach ja, hätte man doch nur einen solchen einsamen Strand zu Hause in der Nähe, dann könnte man den Hund ewig frei laufen lassen. Leider ist das aber bei uns, immer in der Nähe von vielen jagbaren Wildtieren, gefährlichen Straßen, vielen Menschen und (Jagdhunden gegenüber nicht unbedingt freundlich gesinnten) Jägern ein unerfüllbarer Traum, zumindest beim jetzigen Erziehungsstand meines Hundes. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Vielleicht tobt meine Sira ja eines Tages so durch die Siegauen...

Wir verlassen den Strand auf eine kleine Straße, die uns steil bergauf führt. Bald geht es über schöne Waldwege und steinige Pfade zwischen Feldern entlang. Für eine kurze Zeit verlieren wir das Meer aus den Augen, nur um dann einen steinigen Weg abzusteigen, der uns wieder zum Wasser führt.

Bald stehen wir vor der Bar "Playa de Lires", oberhalb des Strandes. Papa, der sich immer noch still mit seinem rebellierenden Magen herumschlägt, ist froh, dass wir hier sind und entscheidet, dass hier heute für uns Feierabend angesagt ist. Er kann nicht mehr. Jan hatte uns angeboten, uns heute hier abzuholen und morgen wieder herzufahren und wir nehmen gerne an. Also warten wir hier zusammen mit unserer Mitpilgerin Gabi auf unser "Taxi".

Zu der Strandbar steht Interessantes in unserem Wanderführer: "Wenn es Ihnen [...] gelungen ist, sich vom Anblick des Meeres und/oder den schönen Augen von "Lolli" (Dolores, die schöne Tochter des Hauses) loszureißen, folgen Sie [...] dem Meeresarm immer weiter geradeaus [...]." Na, DAS wollen wir doch mal sehen. Kurz nachdem wir sitzen, kommt eine junge dunkelhaarige Frau mit tatsächlich feurigen dunklen Augen heraus, um unsere Bestellung aufzunehmen. Papa fragt sie bald, ob sie Dolores sei. Sie nickt erstaunt und er erklärt ihr bald, woher er das weiß. Sie freut sich verlegen über das Kompliment des Buchautors und ihre namentliche Erwähnung im Wanderführer. Tja, so schnell geht das! Hat der Papa mal wieder ein junges Mädel glücklich gemacht!

Bald verabschieden wir uns von Gabi und Jan fährt vor, um uns abzuholen. Er fährt quasi noch einmal die Wegstrecke mit uns ab und liefert uns dann vor der Haustür ab. Rosa empfängt uns und fragt, wie unser Tag war und ob wir Tee oder Ähnliches haben möchten. Papa und Sira möchten erstmal nur Ruhe. Sira macht noch nicht einmal Späßchen mit Compis. Sie schiebt sich an ihm vorbei und lässt sich gleich im Eingangsbereich auf den Teppich fallen. Ich überrede sie mit Mühe zu einem letzten Anstieg hoch in unser Dachzimmer, bevor sie für heute Feierabend hat. 

Nach einem Nickerchen geht es Papa wieder besser und er beginnt schonmal, so gut wie möglich, seine Sachen zu packen.

Sira liegt währenddessen in Compis Leihkörbchen und schläft. Ihre Beine, Mundwinkel und Ohren zucken. Sie träumt. Vielleicht läuft sie noch einmal in Gedanken ihren Strand ab.

Was für ein gelungener vorletzter Wandertag! 

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Kommentare: 3
  • #1

    Sebastian (Mittwoch, 26 Juni 2013 23:19)

    Wer Durchfall hat, darf sich auf der Rückreise auf den Weely setzen und sich an der Anhängerkupplung festhalten! Mein Auto beibt geruchsneutral!

  • #2

    Dani (Donnerstag, 27 Juni 2013 09:48)

    Was werden mir diese herrlichen Berichte fehlen!!!

  • #3

    Anne Sager (Donnerstag, 27 Juni 2013 21:23)

    Gratulation euch Dreien, wenn auch leicht angeschlagenen.Ich ziehe mein Tuch vor Euch, dass ihr Tag täglich euren Weg weiter gegangen seid. Ach wie habe ich euch doch beneidet. Wenn ich bei der Arbeit in der kalten Schweiz dem Alltag stand halten musste. So hatte ich mich immer wieder vertieft in eure tollen Berichte, die ich sicher vermissen werde. Denn was nun hinter euch liegt hab ich noch vor mir. Juhu im September mach ich mi wieder auf die Socken. Lasst euch dolle drücken... Anne