Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Ein Fazit - oder sowas Ähnliches

Jeder, der auf einen Pilgerweg geht, geht seinen ganz persönlichen Weg, aus seinen ganz persönlichen Motiven heraus, in seiner ganz eigenen Art und Weise. Keiner kann konkret vorhersagen, in welcher Weise und mit welcher Intensität ihn die Pilgerreise verändern wird, aber sie wird ihn verändern. Ein Spruch unter Pilgern lautet: Gleichgültig, ob jemand aus spirituellen Motiven, aus Abenteuerlust, aus kunstgeschichtlichem Interesse oder als sportliche Herausforderung den Jakobsweg geht, in Santiago kommen alle als Pilger an.

 

Wir haben dieselben Erfahrungen gemacht wie die Pilger zu allen Zeiten: aufbrechen, Einsamkeit begegnen, Schmerzen ertragen, durchhalten, ankommen. Wer in Santiago de Compostela eintrifft, ist ein Anderer geworden. Was hat diese Pilgerreise also aus uns gemacht? Hat sie uns wirklich verändert? Garantiert hat sie das. Aber das genau zu ergründen, ist – für mich jedenfalls – noch zu früh. Es muss alles noch mehr sacken. Ich brauche noch mehr Abstand. Vielleicht werde ich selbst darauf auch nie eine Antwort finden. Möglicherweise können bald andere, die mich kennen, das viel besser beurteilen.

 

Ob oder wie uns der Weg verändert hat, wissen wir (noch) nicht. Was wir geleistet und erlebt haben, wissen wir sehr genau: 134 Tage sind wir gewandert, nur in Santiago haben wir uns einen Ruhetag gegönnt. Zusammen waren es fast auf den Kilometer genau 3000 Kilometer. Ein Paar Wanderschuhe hat jeder von uns „durchgelatscht“, das zweite Paar ist schon erheblich angegriffen. Drei Paar Socken mutierten bei mir mit den Wochen zum Schweizer Käse. Anni benötigte nur ein Paar, himmelte dafür aber eine Trekkinghose. Beide verloren wir auf dem Weg zusammen 28 kg (!) Körpergewicht. Man möge sich das bitte auf der Zunge zergehen lassen. Das ist gleichbedeutend mit dem Gewicht von zwei schwerbepackten Rucksäcken.

 

Am Anfang war die Neugierde: Nicht nur, werden wir den Weg schaffen?, sondern: Wird der Weg uns „schaffen“? Ich hatte die Sorge, dass ich auf dieser Pilgerreise meinen Körper intensiver kennenlernen würde, als ich eigentlich wollte. Doch die Sorge war unbegründet. Mein Körper bereitete mir so gut wie keine Probleme, meine Psyche genoss den Weg wie ein Stück Schokolade, das langsam auf der Zunge zergeht. Unser beider Durchhaltewillen zeigte sich als verlässlicher Gefährte. Der zeitweilige Entzug des gewohnten Komforts, eine Dosis von Strapazen und Härten, hatte für mich vor allem eine befreiende Wirkung. Zu erleben, dass ich dazu noch fähig bin, ja darüber hinaus noch Lust auf mehr bekommen habe, macht mich froh. Selbst die spartanische Nahrungsaufnahme an den meisten Abenden lässt mich im Rückblick nur noch schmunzeln. Das Hungergefühl am Ende eines Wandertages folgte einem bestimmten Muster: Am ersten Tag quälte einen der Hunger auf die angekündigte abendliche Nudelsuppe; am zweiten Abend quälte einen der Hunger, aber nicht schon wieder auf Nudelsuppe; am dritten Abend konnte man keine Nudelsuppe mehr sehen, aber man wusste, dass man was essen muss; am vierten Tag hatte man eigentlich überhaupt keinen Appetit, aber man aß trotzdem Nudelsuppe, weil man das eben so tut. Zur Abwechslung dann einmal ein Abend mit Kartoffelpüree aus der Tüte mit reingeschnibbelten Wurststückchen – und dann ging der Turnus mit der Nudelsuppe wieder von vorne los.

 

Die Nahrung für den Magen war das eine, die Nahrung für die Seele, der Weg durch wunderschöne Landschaften, das andere. Am faszinierendsten war für mich die nahezu meditative Streckenführung durch die spanische Meseta. Hier spürte ich ganz deutlich, wie mich der Zauber dieser Landschaft ergriff. Eigentlich war dies keine Landschaft, es war ein Zustand, in den man sich langsam versenken wollte. Alles hier war Harmonie und manchmal dachte ich, lag in diesem Moment der Sinn meiner Reise. Im Rückblick auf die vergangenen Wochen war der Weg wie die konkave Innenseite der Jakobsmuschel – wie eine Schale. Vielerlei habe ich darin aufnehmen und sammeln können: verschiedenartigste Landschaften, Kulturdenkmäler, unterschiedlichste Erfahrungen, Begegnungen, Sonne, Wind, Regen, karge und noblere Übernachtungen, einfachstes und feudaleres Essen, Gedanken und Erinnerungen, Gespräche, Anstrengungen und Schweiß, Freude und Freiheit … Diese Muschelschale ist randvoll.

 

Im Mittelalter gab es einen Spruch: „vita via est“ – „Das Leben ist ein Weg“. Ein leicht verständlicher Vergleich, das Leben als Weg zu sehen, mit einem Anfang, mit Irr- und Umwegen, mit Aufs und Abs, mit (hoffentlich!) einem Ziel. Den Spruch kann man aber auch umdrehen: „via vita est“ – „Der Weg ist das Leben“. Denn Vieles ist auf dem Weg ganz lebendig: die unterschiedlichen Wetter-, Jahreszeiten- und Landschaftserfahrungen, die Begegnungen mit Menschen, das Erleben von unterschiedlichen Kulturzeugnissen, unterschiedliche Glücks- und Schmerzerfahrungen …

 

Die emotionalsten Momente lagen für mich am Schluss. Lange hatte ich geplant, gespart, gezweifelt. Ich hatte manche Hoffnung und viele Befürchtungen. Dann stand ich vor der Kathedrale von Santiago de Compostela – unfassbar! Und jetzt? Eine bisher unbekannte Traurigkeit war in mir aufgestiegen. Ich konnte es nicht länger verdrängen: Meine Pilgerwanderung war zu Ende. Wo waren die anderen? Die netten Menschen von unterwegs? Glücklicherweise war ich nicht allein gelassen. Anni und Sira waren noch da.

 

Dann noch die „Galgenfrist“ bis Kap Finisterre, bis Muxia. Irgendwann am wirklich letzten Wandertag durchfuhr es mich dann wie ein Blitz, und mir wurde schlagartig bewusst, dass meine Wanderung nicht mehr lange dauern würde. Nur noch ein paar Kilometer, dann war alles vorbei. Vieles, was mir in den vergangenen Wochen so gefallen hatte, würde es bald nicht mehr geben: das ständige Unterwegssein, das Dahintreiben auf Straßen und Pfaden, das Leben unter freiem Himmel und das Gefühl, heute hier und morgen dort zu sein. Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten, hätte sie ausgeblendet. Doch unaufhörlich rann sie dahin, und mir wurde klar, dass ich eigentlich gar nicht ankommen wollte. In mir war eine seltsame Mischung von Vorfreude, Enttäuschung und innerer Anspannung.

 

Als Anni und ich bei der Felsenküste von Muxia, an der „Virxen da Barca“, nebeneinanderstanden, war ich für einen Moment unfähig, ein Wort hervorzubringen. Einen Moment zögerten wir. Dann nahmen wir uns in die Arme. Und ich dachte: Kann man jemanden intensiver spüren als sein Kind? Danke!, flüsterte ich ihr wortlos ins Ohr und hielt sie noch fester.

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Kommentare: 5
  • #1

    Lore aus Lohmar (Dienstag, 09 Juli 2013 23:00)

    Hallo Reinhard,
    danke für Dein "Fazit".
    LG
    Lore

  • #2

    Christel (Mittwoch, 10 Juli 2013 07:41)

    Ich habe jeden Abend auf ein letztes Wort von Euch gewartet. Danke!!! Es war toll, in Gedanken mit Euch diesen Weg zu gehen und nun zum Schluss noch die "Abschlussgedanken". Danke, danke!

  • #3

    Dani (Mittwoch, 10 Juli 2013 14:39)

    Ich habe jeden Tag geschaut, ob noch ein Fazit kommt. Annis würde mich auch interessieren. Danke dass ihr uns mit auf diese Reise genommen habt, die nicht Die letzte gewesen sein muss. Und ich bin gespannt, ob ihr euch auch für uns spürbar verändert habt.

  • #4

    Peter (Mittwoch, 10 Juli 2013 20:58)

    Danke.

  • #5

    Ralf (Sonntag, 14 Juli 2013 20:39)

    Kann mich nur anschließen....DANKE