Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Was brachte uns dazu, ein solches Unternehmen zu planen?

Annika

 

Mein Vater wandert, seit ich denken kann. Er hat uns nie dazu gedrängt, selbst zu wandern, hat sich aber immer gefreut, wenn wir ihn begleiten wollten. 2009 war es dann soweit. Ich hatte mich entschieden, ihn auf einem Trip an der irischen Küste zu begleiten, allerdings nur eine gute Woche lang. Auf dieser Wanderung wurde mir deutlich, dass mir das u.a. hilft, Entscheidungen zu treffen. Damals beschloss ich, nach Afrika zu gehen. Nach unserer Irlandreise begann ich, Reisetagebücher zu lesen und mich fürs Fernwandern zu interessieren. Ich las unter anderem Erfahrungsberichte über Jakobspilger und dachte mir: „So etwas muss ich irgendwann auch mal machen.“

 

Während meines Freiwilligenjahres in Afrika wurde ich irgendwann morgens wach und dachte: „Das ist das Nächste, das ich tun muss!“ Als ich in den darauffolgenden Tagen mit meinem Vater skypte, kam folgender Dialog zustande:

 

„Du, Papa, ich hab mir was überlegt. Ich pilger den Jakobsweg.“

Papa antwortete: „Boa geil, Tochter, da komm ich mit.“

„Aber wenn ich das schon mach, dann geh ich zu Hause los.“

„So bekloppt bist du?“

„Klar!“

„Ja, das tät mich auch reizen...“

 

Ich weiß nicht, ob wir uns im Klaren waren, wie ernst wir das beide meinten. Mir war nur klar, dass ICH das sehr ernst meinte. Bauchentscheidungen sind mein Ding!

 

Tja, und seitdem stellte ich mein Leben darauf ein und plante meinen großen Aufbruch, zu Fuß bis nach Spanien!

 

Meine Motivation zu pilgern? Ich kann es gar nicht genau sagen. Vielleicht hoffte ich darauf, Antworten zu finden, in mir selbst. Antworten auf Vergangenes. Oder auf die Frage, wie mein weiteres Leben verlaufen soll. Beruflich und privat.

 

Vielleicht wollte ich mir selbst aber auch nur etwas beweisen. Dass ich e(twa)s schaffen kann. Meinen inneren Schweinehund besiegen kann, und das immer und immer wieder. Oder ganz schlicht: Dass ich eine Distanz von fast 3000 km zurücklegen kann, und das aus eigener Kraft, nur mit meinen Füßen.

 

Vielleicht suchte ich aber auch die Schlichtheit. Viereinhalb Monate, lediglich bestehend aus Laufen, Zelt aufbauen, Essen, Schlafen. Und viel Zeit zum Denken.

 

Vielleicht wollte ich einer Gruppe von Sonderlingen angehören, die sich anfangs Tag für Tag kurz sehen, sich zuwinken, irgendwann gemeinsam am Tisch sitzen und schließlich einen Teil des Weges gemeinsam gehen, als Pilgergemeinschaft. Dieses Gemeinschaftsgefühl stellte ich mir außergewöhnlich vor.

 

Vielleicht japste ich danach, ein besonderes Abenteuer mit meinem Hundchen zu erleben. "Wenn wir zwei DAS zusammen schaffen, dann kriegt uns danach keiner mehr getrennt!"

 

Vielleicht suchte ich auf diesem Weg den Glauben, man weiß ja nie...

 

Vielleicht erhoffte ich mir, durch dieses gemeinsame Abenteuer Zeit mit meinem Vater zu verbringen, die wir in diesem Ausmaß noch  nie füreinander hatten. In harten Zeiten würden wir uns aufeinander verlassen müssen und auch eine Menge Spaß haben. Vielleicht sollte sich dadurch zwischen uns ein besonderes Band knüpfen.

 

Vielleicht war dieses „Unterfangen Jakobsweg“ aber auch einfach nur ein Punkt auf der „ToDo-Liste für mein Leben“.

 

Es gibt dutzende Punkte, die für mich die ausschlaggebende Motivation für diese Pilgerschaft sein konnten. Vielleicht waren es auch alle Punkte zusammen. Vielleicht wusste ich aber auch erst am Ende unserer Wanderung, warum ich diese Reise überhaupt gemacht habe.

 

 

 

 

 

Papa Reinhard

 

Freie Zeit, oder Freizeit, darf nicht zu Langeweile führen, und damit zur Verschwendung des Lebens. Meine Zeit wird im Verlaufe immer kostbarer und das vermeintlich Wichtige im Leben relativiert sich mehr und mehr. Ich bin froh, dies schon vor einiger Zeit erkannt zu haben.

 

Seit über 40 Jahren wandere ich leidenschaftlich gerne, hauptsächlich im nordeuropäischen Raum (mehr dazu könnt Ihr, wenn Ihr wollt, unter "Unsere ´Trainingsstrecken`" nachlesen). Natur und Landschaften hautnah, mit allen Sinnen zu erleben, Länder mit ihren Kulturen, ihrer Geschichte und ihren Menschen kennenzulernen, eigene Grenzen zu erfahren, all das hat mich jahrzehntelang fasziniert - und einiges an Geld gekostet. Geld, das aber immer  gut angelegt war. Ich bin glücklich, dass ich diese Leidenschaft an meine Kinder weitergeben konnte, an das eine mehr, an das andere weniger.

 

Bis jetzt waren es Fernwanderwege, auf denen ich Tausende von Kilometern zurückgelegt habe, sehr oft alleine, manchmal in Begleitung von einem meiner Kinder oder guten Freunden oder Freundinnen, häufig als Wanderführer von kleinen Gruppen. Ein Pilgerweg war noch nicht dabei. Sollte ich nun unvermittelt  vom Wanderer zum Pilger? Oder ... brach ich als Wanderer zu Hause auf und kam als Pilger in der Kathedrale von Santiago de Compostela an?

 

Was waren nun die Gründe? Einfacher ist vielleicht die Antwort auf die Frage, warum ich es NICHT machte: Ich wage zu behaupten, dass die Sünden meiner Vergangenheit nicht so schwer und so zahlreich sind, dass dafür diese Tour (oder Tortur?) zwingend  gewesen wäre. Straffällig geworden bin ich auch (noch) nicht, dass man mir, wie im Mittelalter ja geschehen, diese Pilgerschaft auferlegt hätte. Die Heilung meiner (kleinen) Krankheiten erhoffte ich mir damit auch nicht, da vertraue ich weiter meinen Ärzten. Pilgern in der Hoffnung auf Errettung von Kinderlosigkeit? Ha!! Bei der Existenz von sechs eigenen Nachkömmlingen fehlt da ja wohl etwas die Sinnhaftigkeit. Religiöser Zwang oder gar Höllenangst? Ich hoffe, dies ist nun auch lange vorbei oder spielt nur noch in traurigen Einzelfällen eine Rolle. Wundergläubigkeit und Glorifizierung von Heiligen? Ohne mich, und außerdem gehöre ich dazu der falschen christlichen Abteilung an. Man möge mir verzeihen.

 

Ja ... warum denn nun? Seit etwa 15 Jahren nagte bei mir im Kopf der Gedanke, den Jakobsweg zu gehen. Zu dieser Zeit war Hape Kerkeling den Deutschen als ein hervorragender Komödiant bekannt, aber noch nicht als Pilger. Sein Buch hatte mich also mit Sicherheit nicht infiziert. Dass ich den Weg noch nicht unter die Füße genommen hatte,  lag an meiner Berufstätigkeit. Wenn, dann wollte ich den Camino in Spanien in einem Stück erwandern und nicht in Teiletappen. Dies aber in den großen Ferien im Sommer, bei größter Hitze und höchstem Pilgeraufkommen. kam für mich nicht in Frage. Also musste ich auf den Bruch in meinem Lebenslauf warten, den man "Pensionierung" nennt. So nun geschehen! Vielleicht wollte ich also die Zeit unterwegs nutzen, darüber nachzudenken, wie ich das letzte Drittel meines Lebens angehe, strukturiere, plane. Neuorientierung nennt man das wohl, vielleicht sogar Aufbruchstimmung. Ich wollte nach neuen Impulsen und geistiger Auffrischung Ausschau halten und auftanken. Der Weg nach Santiago würde einiges an Kraft kosten, aber ich hoffte, er gäbe auch das Vielfache an neuen Kräften zurück. Der Wunsch, auf alten Wegen umzukehren, ließ mich einbiegen in den Jakobsweg.

 

Mit Sicherheit war es auch ein Stück Abenteuerlust, die mich trieb. Nochmal etwas Besonderes (Verrücktes?) tun. Aus dem Camino in Spanien ist ja nun der Camino von der eigenen Haustür bis nach Santiago de Compostela geworden. Über vier Monate lang nahezu täglich unterwegs, dabei mindestens 12 Kilogramm im Rucksack schleppen, bei jedem Wetter, durchschnittlich mehr als 20 Kilometer am Tag. Und dann noch mit einem Hund! Viele Nächte dabei im Zelt verbringen, im Schlafsack, auf der Isomatte. Viele "Rentner" tun sich das nicht mehr an. Selbsterfahrung - erfahren, was man noch "drauf hat".

 

Körperliches Wohlbefinden durch körperliche Betätigung - so war es geplant und erhofft. Wie es ausging, blieb abzuwarten. Mein Speckgürtel würde mit Sicherheit etwas schwinden, vielleicht sogar recht ordentlich. Stattdessen würde es aber mit genauso großer Sicherheit diverse Wehwehchen geben, bei denen dann von Wohlbefinden keine Rede mehr sein kann. Solange nicht ein Abbruch das Ergebnis war, wollte ich mich gerne darauf einlassen. Wie würde ich mit meinen Grenzen umgehen? Auch ein Stück Selbsterfahrung. Der Jakobsweg veränderte neben meinem Inneren auch mein Äußeres.

 

Ein weiterer Grund war natürlich mein Interesse an der französischen und spanischen Kultur und Küche. Für einen geschichtsbegeisterten Menschen wie mich boten die Jakobswege in beiden Ländern ein Eldorado an Kulturstätten (Kirchen, Kathedralen, Klöster) und Gaumengenüssen, wie ich sie in dieser Konzentration noch nicht erlebt hatte.

 

Bestimmt nicht unwesentlich war auch mein Wunsch nach einem zeitweiligen bewusst gewählten, einfachen Lebensstil, vielleicht sogar nach einem kontrollierten Abgleiten in die Verwahrlosung, als Gegensatz zu unserem vom Konsum übersättigten Alltagsleben.

 

Ein letzter Grund: Als Pilger würden Annika und ich für eine lange Zeit unsere Familie und unsere Freunde verlassen und zu Fremden in einem anderen Land werden. Der gewohnte soziale Status und die hierarchischen Beziehungen gingen (hoffentlich) verloren oder würden doch zumindest sehr unwichtig. Ich freute mich auf intensive und offene Kontakte mit den Menschen, die am Weg wohnen, und mit den Gleichgesinnten aus den verschiedensten Nationalitäten, Altersgruppen und sozialen Schichten.

 

Das alles mit Annika zu erfahren, zu erleben, durchzustehen, sollte unsere Beziehung für die Zukunft prägen. Und dafür bin ich mehr als dankbar. Die Bezeichnung "Kumpan" war für meine "kleine" Tochter vielleicht nicht so ganz zutreffend, passte aber damit in das Zitat von Martin Luther: "Mit einem guten Kumpan ist gut wandern, denn einer hilft dem andern seine Bürde zu tragen".

 

Paulo Coelho: Hören wir auf zu träumen, dann stirbt unsere Seele.

Ich: Lebe deine Träume jetzt und setze sie den Umständen entsprechend durch.

 

 

 

 

 

 

Sira

 

Wie ich auf die Idee gekommen bin? Mich fragte ja keiner! Ich wurde einfach mitgeschleppt MitLAUFEN musste ich! Frauchen hatte mal gesagt, schon bevor sie mich zu sich geholt hat, wusste sie, dass ich das mit ihr gehen würde. Deswegen hat sie mich ja ausgesucht. Weil ich in so einem strammen Alter war. Und so schön groß. Und so schön lieb.

 

Aber ich denke, es gibt Schlimmeres als das, was Frauchen sich da überlegt hatte. Was ich mir von unserem Riesenspaziergang erhoffte? Das kann ich am Besten in Bildern erklären...